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Wie Kindern den Holocaust vermitteln? HSBI-Absolventin besucht mit Schülern Ausstellung „Die Cellistin von Auschwitz“

Aufmerksam setzten sich die Kinder mit der Ausstellung „Die Cellistin von Auschwitz“ in der HSBI auseinander.  Copyright: K. Schradi/HSBI
Aufmerksam setzten sich die Kinder mit der Ausstellung „Die Cellistin von Auschwitz“ in der HSBI auseinander. Copyright: K. Schradi/HSBI
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Warum man schon Kinder im Grundschulalter für die Gefahren
diskriminierender und menschenverachtender Ideologien sensibilisieren
sollte und wie eine altersgerechte kritische Auseinandersetzung mit dem
Nationalsozialismus und Antisemitismus gelingen kann, hat HSBI-Absolventin
Elif Çelik jetzt in einem Projekt mit Schüler:innen der Laborschule
Bielefeld gezeigt. Eine zentrale Rolle dabei spielt die in der Hochschule
gezeigte Ausstellung über die Holocaust-Überlebende Anita Lasker-Wallfisch
„Die Cellistin von Auschwitz“

Bielefeld (hsbi). Morgens um Neun ist es ruhig auf der Magistrale. Einige
Studierende schlendern vorüber, Mitarbeitende holen sich einen Kaffee.
Dann wird es plötzlich wuselig am Haupteingang. Helles Stimmengewirr und
eine Gruppe Kinder, die zielstrebig auf die kleine Ausstellung „Die
Cellistin von Auschwitz“ zusteuert. Schulranzen werden auf einem Haufen
gestapelt, und schon sind die Aufsteller umlagert. Mitten drin in der
Gruppe: Elif Çelik, Absolventin des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an
der Hochschule Bielefeld (HSBI). Ungleichheiten, Diskriminierungen,
Machtverhältnisse – die Themen haben Elif Çelik schon in ihrer
nebenberuflichen pädagogischen Praxis in verschiedenen Bielefelder
Angeboten für Kinder und Jugendliche interessiert. Und erst recht im
Studium: „Ich wollte mehr darüber wissen, wie man über politische
Bildungsarbeit Diskriminierungen entgegenwirken kann. Denn darin sehe ich
auch meine Verantwortung als Sozialarbeiterin“, sagt Çelik, die im
vergangenen Sommer ihren Abschluss gemacht hat.

Sich mit der „Geschichte der Profession“ während der Nazizeit
auseinandersetzen

Mit dieser Einstellung war sie bei Prof. Dr. Erika Schulze an der
richtigen Adresse. Immer wieder greift die Professorin für Soziologie der
Kindheit und Jugend in ihren Seminaren den Nationalsozialismus und
Antisemitismus auf – auch aus Gründen der kritischen Auseinandersetzung
mit dem eigenen Fach. „Soziale Arbeit und Pädagogik waren vielfach aktiv
in das nationalsozialistische System eingebunden, die dort Tätigen waren
Nutznießer:innen, Täter:innen, Mitläufer:innen. Dies ist Teil der
Geschichte dieser Professionen, eine kritische Reflexion ist daher
notwendiger Bestandteil der Ausbildung.“
In ihren Seminaren verbleibt Erika Schulze nicht in der Theorie. Als ein
Beispiel für eine sensible Möglichkeit der Auseinandersetzung mit dem
Holocaust hat sie im Mai die Ausstellung „Die Cellistin von Auschwitz“ an
die HSBI geholt. Konzipiert von der Kulturpädagogin Barbara Kirschbaum,
erzählt die Ausstellung auf großen Bildtafeln die Geschichte von Anita
Lasker-Wallfisch, die als junge, jüdische Frau 1942 zunächst zur
Zwangsarbeit verpflichtet wurde, bevor die Nazis sie ins
Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau deportierten. Dort spielte sie als
Cellistin im Lagerorchester, bis sie nach Bergen-Belsen verlegt und dort
von der Britischen Armee gerettet wurde. Das Besondere: „Die Ausstellung
richtet sich explizit an Kinder im Alter von acht bis zwölf Jahren“,
erläutert Erika Schulze. In ihrem Anerkennungsjahr als Sozialarbeiterin an
der Bielefelder Laborschule begleitet Elif Çelik unter anderem diese
Altersgruppe. Als Schulze ihr vorschlug, die Ausstellung für ein
Schulprojekt zu nutzen, startete Çelik eine Umfrage und zwei Gruppen und
ihre Lehrkräfte meldeten Interesse an.

Rechtzeitige Konfrontation mit der „harten“ Realität: Kinder werden oft
unterschätzt

Aber sollte man Kinder nicht besser mit solch schwierigen Themen
verschonen? Immer wieder hört Schulze solche Bedenken, sie schüttelt
energisch den Kopf: „Kinder wissen ohnehin schon einiges über den
Nationalsozialismus und den Holocaust, schnappen über die Medien oder von
älteren Kindern etwas auf, haben Stolpersteine gesehen.“ Elif Çelik nickt
zustimmend und nennt dieses fragmentarische Wissen gefährliches
Halbwissen: „Bleibt das ohne Einordnung, bringen Kinder es für sich selbst
in einen Sinnzusammenhang. Das kann zu falschen, phantasiegeleiteten
Vorstellungen und diffusen Ängsten führen.“ Oder auch dazu, dass
antisemitische Aussagen oder nationalsozialistische Symbole reproduziert
werden, als Provokation oder weil sie nicht als diskriminierend
eingeordnet werden. Dem setzt Erika Schulze frühzeitiges pädagogisches
Aufgreifen der Thematik entgegen: „So können wir Wissen und Verstehen
vermitteln und Empathie fördern. Wir unterschätzen Kinder oft und trauen
ihnen zu wenig zu. Aber Kinder sind empathisch, verfügen über ein starkes
Gerechtigkeitsempfinden und setzen sich sehr klug und ernsthaft mit der
Welt auseinander.“

Elif Çeliks Gruppe erkundet inzwischen die Ausstellung – jedes Kind auf
seine Weise. Ein Mädchen geht still von Tafel zu Tafel, liest aufmerksam
den gesamten Text. Andere schauen gemeinsam, halten sich an der Hand oder
springen zwischen den Tafeln hin und her, betrachten die Bilder, machen
sich gegenseitig auf Entdeckungen aufmerksam. Die ersten schnappen sich
schon bald die bunten Kärtchen, die Çelik ausgelegt hat, notieren ihre
Gedanken und legen die Kärtchen an die Bildtafeln. Manchen reicht ein
Wort: „Warum?“ Andere nutzen die Notizen, um sich zu sammeln für einen
zweiten Anlauf: „Ich finde das sehr schlimm. Ich konnte nicht weiterlesen,
werde es jetzt aber machen.“ Besonders ausführliche Kärtchen finden sich
vor der Bildtafel zur Verfolgung Kranker und Behinderter. Sie gehört zu
den Ergänzungstafeln, die die Verfolgung weiterer Gruppen durch die
Nationalsozialisten thematisieren.

Ein Kinderbuch als Grundlage für die Ausstellung über die „Cellistin von
Auschwitz“

Während die Ergänzungstafeln neu für die Kinder sind, sind sie mit Anita
Lasker-Wallfischs Geschichte schon vertraut. Denn die Ausstellung beruht
auf dem Kinderbuch „Du wirst gerettet werden. Die Cellistin von
Auschwitz“, ebenfalls von Barbara Kirschbaum. Das Buch hat Elif Çelik zur
Vorbereitung mit den Kindern und Lehrkräften der Laborschule gelesen. „Oft
gab es Proteste, wenn ein Abschnitt zu Ende war: Ich sollte weiterlesen“,
berichtet Çelik vom großen Interesse der Kinder. Aber auch die
Illustrationen von Lukas Ruegenberg wecken Aufmerksamkeit. Ein Kind ist
mit dem Buch in der Hand in der Ausstellung unterwegs, vergleicht die
Bilder darin ganz genau mit den Bildtafeln: „Das hier ist anders, und hier
fehlt was.“ Erika Schulze schaut fasziniert zu. „Auf die große Bedeutung
der Illustrationen für die Vermittlung musste uns erst Barbara Kirschbaum
aufmerksam machen. Ich hatte zuerst nur den Text im Blick“, bekennt sie
selbstkritisch.
Prof. Schulze hatte die Kulturpädagogin zusätzlich zu einem Multiplikator
:innen-Workshop eingeladen: Kirschbaum diskutierte mit Studierenden und
zeigte verschiedene Methoden auf, wie sich die schwierige Thematik
kindgerecht vermitteln lässt. Elif Çelik schüttelt ein Glas voller
Reiskörner – zwei davon sind bunt eingefärbt. Çelik: „So kann man
veranschaulichen, dass nur sehr wenige Menschen wie Anita Lasker-Wallfisch
den Holocaust überlebt haben.“

Mitläufer und Ignorant:innen: Welche Rolle spielte die
Mehrheitsgesellschaft?

Eine andere Möglichkeit bietet die Interpretation der Bilder. Einfach
gestaltet, zeigen sie zwar nicht explizit das Grauen, beschönigen oder
verschweigen aber auch nichts. In ihrer Seminarveranstaltung besprach
Kirschbaum mit Erika Schulze und ihren Studierenden ein Bild, auf dem ein
Zug durch eine hübsche Landschaft fährt. Bei dem Zug handelt es sich um
einen Deportationszug, eine Familie schaut hinterher, im Hintergrund ist
ein Dorf zu sehen. „Das zum Beispiel eröffnet die Möglichkeit, über die
Betroffenheits- oder Mitleidsebene hinauszugehen und den Blick auf die
Mehrheitsgesellschaft zu richten“, erklärt Schulze. „Was hat die Familie
gedacht beim Anblick des Zuges? Was war im Dorf bekannt? Und wie kam es,
dass viele ganz normale Menschen sich nicht gewehrt, sondern mitgemacht
haben? Es gilt zu verstehen, wie das System als Herrschaftssystem
funktionierte, welche Verlockungen es bot.“

Die Kinder packen inzwischen ihre Sachen zusammen. Manche beschäftigt die
Geschichte bis zur Identifizierung. „Wenn ich Querflöte spiele, würde ich
dann auch gerettet werden?“, fragt ein Mädchen. Erika Schulze ist
überzeugt: „Mit Wissen und Empathie legen wir einen Grundstein im Sinne
eines ‚Nie wieder‘.“

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