Die Erinnerungsrepublik Deutschland ist zu Ende
Dr. Sergey Lagodinsky, Mitglied im Europäischen Parlament, hält die
Heidelberger Hochschulrede
Trotz drückender Hitze fanden sich am Donnerstag, den 12. Juni, rund 50
engagierte Zuhörerinnen und Zuhörer in der Alten Aula ein, um die
Heidelberger Hochschulrede von Dr. Sergey Lagodinsky zu erleben.
Der
Europaabgeordnete, stellvertretende Fraktionsvorsitzende und profilierter
Sprecher für Rechts- und Außenpolitik der Grünen, versprach schon durch
seine Vita keinen geradlinigen Abend, jedoch politische Brisanz.
Schon zu Beginn machte Lagodinsky klar, dass seine Rede immer ein Spiegel
der aktuellen politischen Lage sei – der ursprünglich angekündigte Titel
war damit Makulatur. Stattdessen drehte sich der Abend um
Erinnerungskulturen, ihren Wandel und ihre Bedeutung – nicht nur in
Deutschland, sondern im europäischen Kontext.
Mit klaren Worten erklärte Lagodinsky: „Die Erinnerungsrepublik
Deutschland ist zu Ende.“ Nach Holocaust und Weltkrieg habe Deutschland
eine Identität entwickelt, die sich nicht auf Ruhm, sondern auf Reue
gründete – ein radikaler Versuch, sich „schonungslos zu sich selbst“ zu
verhalten. Während andere Nationen ihre Geschichte glorifizieren, sei in
Deutschland das Bewusstsein für die eigene „kollektiv mörderische Energie“
prägend gewesen. „Nur wer sich selbst als Monster erlebt hat, weiß, wie
gigantisch die Aufarbeitung sein muss, um sich selbst künftig zu
kontrollieren“, brachte er es auf den Punkt.
Ein zentrales Thema war das deutsch-israelische Verhältnis. Lagodinsky
erinnerte an Angela Merkels berühmte Formel, die Sicherheit Israels sei
Teil der deutschen Staatsräson – ein Satz, der heute oft verkürzt und
überhöht werde. Tatsächlich, so Lagodinsky, habe Merkel lediglich zwei
Selbstverständlichkeiten betont: die historische Verantwortung
Deutschlands und die Unverhandelbarkeit der Sicherheit Israels. Doch die
anschließende „Sakralisierung und Skandalisierung“ dieser Aussage habe
dazu geführt, dass von Deutschland eine bedingungslose Solidarität mit
Israel erwartet werde – eine Erwartung, die Lagodinsky als „unrealistisch
und gefährlich“ bezeichnete. Die Forderung, jede politische Entscheidung
Israels kritiklos zu akzeptieren, untergrabe das Fundament der besonderen
Beziehung beider Länder.
Lagodinsky zeichnete ein Bild von einer sich wandelnden europäischen
Moral: Die Zeit der Aufarbeitung scheint vorbei, stattdessen rücken neue
Bedrohungen wie Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine ins Zentrum. Die
Erinnerungskultur, einst identitätsstiftend, werde heute von vielen –
insbesondere Menschen mit Migrationsgeschichte – als elitär und exklusiv
empfunden. „Wir haben unsere Erinnerung nicht gut genug übersetzt in
andere Sprachen, in andere Perspektiven, in andere Geografien“, mahnte
Lagodinsky. Migration und die Digitalisierung der Debatten bringen neue
Sichtweisen und Konflikte ins Land. Zwar nehme mit der Migration auch die
Israelfeindlichkeit zu, doch dürfe das kein Vorwand sein, Schutzsuchenden
Schutz zu verweigern. Im Gegenteil: Es gelte, mehr Menschen mitzunehmen
und Empathie aktiv zu fördern.
Mit Nachdruck warnte Lagodinsky vor einer schleichenden Entkopplung von
Geschichte und Verantwortung: Das Interesse an der NS-Zeit sei zwar
ungebrochen, doch für viele sei der Zusammenhang mit der eigenen
Verantwortung verblasst. „Der Nexus zwischen Geschichte und der Rolle und
Verantwortung Deutschlands, das ist das, was bei mehr als der Hälfte der
Bevölkerung nicht mehr vorhanden ist, nicht mehr erwünscht ist“, so sein
ernüchterndes Fazit.
Am Ende bleibt Lagodinskys Appell: Die Erinnerungskultur darf nicht
aufgegeben werden. Sie muss sich wandeln, sich neuen Realitäten stellen
und Verantwortung aus den vielfältigen Geschichten und Biografien schöpfen
– für eine offene, solidarische und zukunftsfähige Gesellschaft.
Originalpublikation:
https://www.hfjs.eu/hochschule
erinnerungsrepublik-deutschlan
