Ein Saal voller Geschichten | Erzählcafé der Universität Vechta zeigt Bedeutung in ländlichen Transformationsprozessen
1945 im Nordwesten – oben ein Saal voller britischer Offiziere, welche
sich ihr selbst organisiertes Bier schmecken lassen. Unten eine Skatrunde
Einheimischer, die mit einer eigens gebauten Zapfanlagen-Abzweigung
heimlich an das Bier der Briten gelangte. Diese und weitere Geschichten
hat das Team des Fachbereichs Kulturwissenschaften an der Universität
Vechta im Saal „Bei der Becke“ in Bramsche-Engter erzählt bekommen.
Der
Arbeitsbereich „Digital Humanities“, unter der Leitung von Prof.in Dr.in
Lina Franken, hatte zu einem Erzählcafé eingeladen, um den Saalbetrieb zu
erforschen.
Mehr als 60 Personen teilten dabei ihre Erlebnisse in den Räumlichkeiten;
und verbanden ihre Geschichten mit Objekten, Fotos und Zeitungsartikeln,
um welche die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler gebeten hatten. So
konnten die Überlieferungen vor Ort direkt digitalisiert und für die
Forschung aufbereitet werden. Selbst das Abzweigstück der ehemaligen
Zapfanlage wurde mitgebracht.
Ein Aspekt sei schnell deutlich geworden, erläutert Franken. „Mit dem
Saalbetrieb sind zentrale Erlebnisse im Lebens- und Jahreslauf verbunden,
quasi von der Wiege bis zur Bahre!“. Die Vertrautheit habe vielen Personen
beispielsweise bei Trauerfeiern geholfen. Aufgebaut worden sei dieses
Gefühl durch viele vorherige positive Ereignisse, welche die Engterinnen
und Engter dort erlebt hätten. Seien es Kino-, Musik-, Tanz- oder
Theaterveranstaltungen, Hochzeiten, Vereinsversammlungen oder einfach nur
das gesellige Beisammensein – vieles davon habe dazu beigetragen, dass der
Saal „einfach zum Leben dazugehöre“. Dabei war es für die
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler besonders wertvoll, die
inoffiziellen Geschichten zu hören, die man im Saal mit seiner Einrichtung
nicht direkt sehen kann: Die Bedeutung der mittlerweile zurück gebauten
Empore im Saal als „Knutschecke“ bei Kinovorführungen etwa oder die Rolle
der unscheinbar wirkenden Sektbar als Partnerbörse hätten die Forschenden
ohne die Erzählungen der Menschen nicht herausgefunden.
Auch die Abzweigung der ehemaligen Zapfanlage ist Teil dessen. 1945 –
unmittelbar nach dem zweiten Weltkrieg – waren britische Soldaten im Ort
stationiert und hatten den Saal beschlagnahmt. Das Bier war rar und so
organisierten sich dies die britischen Offiziere selbst. Der Gerstensaft
wurde im Keller des Saals gelagert; oben wurde gezapft. Unten ließen es
sich die Skatrunden aber ebenso gut gehen: Die Engter bauten eine
Abzweigung für das Bier in die Leitung ein und konnten so an der
Mangelware teilhaben. Eine Lösung für den niedrigen Druck bei
gleichzeitiger Entnahme im Keller als auch im Saal hatten sie auch
gefunden: Wenn der Wirt oben zapfen wollte, soll er auf den Boden
gestampft haben, sodass die Skatrunde unten sich nicht zeitgleich
bediente. „Diese damals illegale Konstruktion zeigt nicht nur die
handwerkliche Kreativität, sondern besonders den Zusammenhalt im Ort, der
zentral für ländliche Regionen ist und auch in anderen Zusammenhängen
immer wieder betont wurde“, so Franken.
Insgesamt wurde die zentrale Rolle des Saals für den Ort deutlich. Ob in
Engter im 20. Jahrhundert fünf oder sogar sieben Saalbetriebe bestanden,
darüber gingen die Erinnerungen auseinander. Einig waren sich alle
Besuchenden des Erzählcafés aber, dass Saalbetriebe zentraler Bestandteil
ihres Lebens auch im Alltag sind und waren. Dafür ist auch die Familie der
Betreibenden wichtig. Franken berichtet: „Dass Hermann und Anni Bei der
Becke nicht nur die großen Bälle im Ort ausrichten, sondern auch für
kleine Vereinstreffen die Türen öffnen, wurde mehrfach betont. Hier geht
es nicht um Profit, sondern um Zusammenhalt – der natürlich auch mit der
Wirtschaftlichkeit des Betriebs verbunden ist. Gerade Anni Bei der Becke
hat mit ihrer Speisenauswahl, die wir durch alte Speisekarten und
Menüabfolgen von Festen jetzt digital dokumentieren können, erheblich auch
zur Esskultur im Ort beigetragen. Grünkohl für mehrere hundert Menschen zu
kochen dauert, so hat sie es selbst berichtet, eine gute Woche – und
schafft gleichzeitig einen rituellen Anlass zum Zusammenkommen im
Jahreslauf. In den Speisekarten kann man gut verfolgen, wie zunächst nur
Fleischgerichte und ab den 1990er-Jahren dann auch vegetarische Optionen
angeboten wurden.“ Digital werden diese Speisekarten nun verbunden mit dem
Geschirr, auf dem das Essen verzehrt wurde und wird, und den Tischen, die
hierfür feierlich gedeckt werden. Gescannte Fotos zeigen außerdem das
Büffet bei Veranstaltungen und den festlich geschmückten Saal. Die
Zusammenhänge werden also hier erstmals greifbar und dokumentiert.
„Jetzt gilt es, all die Geschichten in den Kontext mit den Objekten und
auch zum Saal selbst zu setzen, zu kategorisieren und nachhaltig
abzulegen, damit es die Materialien von uns und künftigen Forschenden
analysiert werden kann“, erläutert Franken. „Wir beforschen die Nutzung
und Bedeutung von regionalen Saalbetrieben. So sind wir auch sehr dankbar
für das große Interesse an unserem Erzählcafé und die damit einhergehenden
weiteren Informationen und Kontexte, die wir von den Menschen erhalten
haben.“ Die Fotos und Dokumente scannte das Team direkt vor Ort ein und
fotografierte Objekte ab, sodass diese im weiteren Verlauf auf dem Portal
Kulturerbe Niedersachsen veröffentlicht werden können. Dafür werden sie
gemäß internationalen Standards mit Metadaten, also Informationen zu ihrer
Herkunft und Verwendung, versehen. So wird ein wissenschaftlicher, freier
und langfristiger Zugang gewährleistet. Die Arbeit im Projekt ist aber bei
weitem noch nicht abgeschlossen: „Viele Teilnehmende des Erzählcafés haben
angekündigt, uns noch Fotos nachzuschicken – wir freuen uns auf jeden Fall
sehr über die weiteren Beiträge“, so die Professorin für Digital
Humanities an der Universität Vechta. Der Saal ist der erste, in dem das
Team forscht. Weitere Erzählcafés, u.a. im Saal Haarmeyer in Neuenkirchen,
werden in der Projektlaufzeit bis 2027 folgen. Damit stellt das
Projektteam eine vergleichende Perspektive zu den unterschiedlichen
Transformationen im ländlichen Raum sicher.
Das dahinterstehende Projekt
Das Vorhaben der Arbeitsgruppe Digital Humanities aus den
Kulturwissenschaften der Universität Vechta untersucht zusammen mit dem
Landschaftsverband Osnabrücker Land drei Jahre lang die
Transformationsprozesse von Saalbetrieben. Das Konzept des Projekts ist
neu: In den Sälen zeugen vielfältige Objekte von ihrer aktuellen und
früheren Nutzung. Diese werden nun nach wissenschaftlichen Kriterien
erschlossen und in einer Datenbank gesammelt, aus der eine Online-
Darstellung wächst. Nach internationalen Standards bearbeitet, können die
Erzählungen und Erinnerungen aus den Sälen bald mit anderen
Überlieferungen weltweit verbunden werden. Durch ausführliche Interviews
mit Beteiligten werden die Dinge mit den entsprechenden Kontexten
verknüpft, und diese Erzählungen dokumentiert. Das niedersächsische
Ministerium für Wissenschaft und Kultur (MWK) stellt hierfür rund 250.000
Euro zur Verfügung.