Plastic Credits können Plastikproblem verschlimmern
Die Welt produziert jedes Jahr über 460 Milionen Tonnen Plastik. Ein
Ansatz, der derzeit als Ausweg aus der Krise beworben wird, sind so
genannte Plastic Credits. Um ihre Plastikproduktion auszugleichen, können
Konzerne Gutschriften von Organisationen erwerben und damit Projekte
finanzieren, die Plastik einsammeln.
Ein internationales Expertenteam
unter der Leitung von Sangcheol Moon von der University of California
Berkeley, dem auch Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut angehört,
zeigt in der Zeitschrift One Earth, dass Kompensationsprogramme wie diese
Plastic Credits jedoch weit davon entfernt sind, eine Lösung zu sein. Im
Gegenteil: Sie könnten die Krise sogar verschlimmern.
Das Wichtigste in Kürze:
• Plastic Credits können bekannte Fallstricke reproduzieren. So
könnten beispielsweise Aktivitäten, bei denen Plastik eingesammelt wird
und die ohnehin stattgefunden hätten, finanziert werden. Die Menge des
eingesammelten Plastiks würde durch die Gutschrift nicht größer und die
Verschmutzung durch den Käufer würde dadurch nicht wirklich ausgeglichen
(„Additionality). Zudem wird der Plastikmüll nicht zwangsläufig dauerhaft
aus der Umwelt entfernt („Permanence“) und es fehlen Vorkehrungen zum
Schutz lokaler Gemeinden und Ökosysteme (No-harm-Prinzip).
• Die „Tonne für Tonne“-Logik wird der materiellen, toxikologischen
und kontextuellen Komplexität der Plastikverschmutzung nicht gerecht.
• Werden Plastic Credits als Maßnahme in die erweiterte
Herstellerverantwortung aufgenommen, können dadurch andere politische
Maßnahmen weniger wirksam werden, wie etwa Preissignale, die Hersteller
dahin lenken, Produkte nachhaltig zu gestalten.
Derzeit versuchen Länder weltweit, die sozialen, politischen und
wirtschaftlichen Auswirkungen der Kunststoffverschmutzung zu bekämpfen.
Als potenzielles Instrument haben sogenannte Plastic Credits hier an
Bedeutung gewonnen. „In der Regel werden diese Gutschriften für jede Tonne
Plastik vergeben, die aus der Umwelt oder dem Abfallstrom zurückgewonnen
wird“, erklärt Dr. Melanie Bergmann vom Alfred-Wegener-Institut,
Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI), und Koautorin der
Studie. Die AWI-Biologin ist gemeinsam mit anderen Autoren Teil der
„Scientists Coalition for an Effective Plastics Treaty“. Das
internationale Netzwerk unabhängiger Experten unterstützt die
Verhandlungen der Vereinten Nationen über ein verbindliches Abkommen zur
Begrenzung der Plastikverschmutzung. „Während der Verhandlungen wurden
Plastic Credits als eine neue Finanzierungs- und Kontrollmaßnahme
beworben“, sagt Melanie Bergmann. „Unser von Fachleuten begutachteter
Artikel zeigt jedoch, dass solche Gutschriften kein geeigneter Ansatz
sind, um die Plastikverschmutzung zu verringern oder Maßnahmen zur
Reduzierung zu finanzieren.“ Schlimmer noch: Sie können Schlupflöcher
schaffen und somit Maßnahmen zur Reduzierung von Plastikmengen
untergraben. Denn sie ermöglichen ein „Weiter so“ bei der
Plastikproduktion, die sich bis 2060 wahrscheinlich verdreifachen wird.
Die damit verbundenen Treibhausgasemissionen könnten von aktuell 5,3
Prozent der jährlichen CO2-Emissionen auf 30 Prozent des verbleibenden
Budgets bis 2030 ansteigen.
„Plastic Credits sind eine fehlgeleitete Lösung, die Greenwashing
ermöglichen und gleichzeitig Transparenz und Verantwortlichkeit umgehen
können“, sagt Prof. Andrea Bonisoli-Alquati, assoziierter Professor für
Umwelttoxikologie an der California State Polytechnic University, Pomona,
und Koautor des Artikels. „Wenn wir die Plastikverschmutzung ernsthaft
beenden wollen, dürfen wir nicht länger so tun, als könnten wir den
Schaden ausgleichen. Stattdessen müssen wir die Produktion begrenzen und
Konzerne dafür verantwortlich machen, die sozialen Kosten zu übernehmen,
die sie mit ihrer Plastikverschmutzung verursachen.“
Eine Tonne ist nicht gleich eine Tonne
Die Idee ist nicht neu. Plastic Credits sind wie Emissionsgutschriften.
„Sie haben auch viele der gleichen Schwachstellen“, sagt Sangcheol Moon,
Umweltforscherin an der University of California, Berkeley, und
Erstautorin der Studie. „Bei den Projekten werden oft Aktivitäten
gutgeschrieben, die auch ohne die Gutschriften stattgefunden hätten.
Außerdem gibt es Entsorgungspfade, bei denen Plastik erneut in die Umwelt
gelangen kann. In manchen Fällen haben Plastic Credits-Systeme zu
gesundheitlichen Schäden in den umliegenden Gemeinden geführt und die
informelle Abfallwirtschaft ohne notwendige Sicherheitsvorkehrungen
integriert.“
Die Berechnung von Plastic Credits basiert auf der Prämisse, dass eine
Tonne in der Umwelt eingesammelten oder recycelten Plastikmülls einer
Tonne des „Plastik-Fußabdrucks“ entspricht. Dieses Konzept ist jedoch
nicht allgemein anerkannt und kann in verschiedenen Zusammenhängen
erheblich variieren. Zudem wird es der Komplexität von Kunststoffen nicht
gerecht: „Dieser Ansatz übersieht die enorme Vielfalt in der
Zusammensetzung von Kunststoffen und die sich daraus ergebenden
Auswirkungen auf die Umwelt und die Gesundheit“, sagt Sangcheol Moon. „Bei
Treibhausgasemissionen gibt es eine standardisierte, wissenschaftlich
anerkannte Metrik: das globale Erwärmungspotenzial, das in CO₂-
Äquivalenten ausgedrückt wird. Die meisten Treibhausgase sind in der
Atmosphäre gut vermischt und wirken sich, je nach Quelle oder Ort, relativ
gleich auf das Klima aus. Bei der Plastikverschmutzung gibt es jedoch
keine universelle Metrik.“ Kunststoffe unterscheiden sich stark in Bezug
auf Toxizität, Recyclingfähigkeit und sozioökonomische Auswirkungen. Eine
Tonne klarer, gut recycelbarer PET-Flaschen ist beispielsweise nicht mit
einer Tonne nicht recycelbarer Verpackungen aus mehrschichtigen
Materialien und unterschiedlichen chemischen Zusätzen gleichzusetzen.
Diese fehlerhafte Äquivalenz stellt die Logik der Kompensation mit Plastic
Credits infrage, da bei Kunststoffen gleiches Gewicht nicht
gleichbedeutend mit gleichen Folgen ist.
Über die Verhandlungen für ein verbindliches UN-Plastikabkommen
Seit 2022 kommen Delegierte aller 193 UN-Mitgliedsstaaten sowie
Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Zivilgesellschaft und
Wirtschaft zusammen, um ein rechtsverbindliches Abkommen (UN Plastics
Treaty) zur Reduzierung der Plastikverschmutzung auszuarbeiten. Der
ursprüngliche Zeitplan für die Verhandlungen wurde verlängert. Die nächste
Verhandlungsrunde findet vom 5. bis 14. August 2025 in Genf statt.
https://www.awi.de/im-fokus/mu
Gemeinsame Presseinfo des AWI, der University of California Berkeley,
California State Polytechnic University, Sorbonne Université