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„Geschichtswissenschaft in der postkolonialen Demokratie“ Podiumsdiskussion 8. Mai 2025 in bundesweiter Aktion

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 In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte drängend ist, hat eine Podiumsdiskussion im Leibniz-
Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz richtungsweisende
Impulse gesetzt, um das Verständnis von Geschichte in einer postkolonialen
Demokratie zu fördern.

Mainz, 20.05.2025 – In einer Zeit, in der die Auseinandersetzung mit der
eigenen Geschichte drängend ist, hat eine Podiumsdiskussion im Leibniz-
Institut für Europäische Geschichte (IEG) in Mainz richtungsweisende
Impulse gesetzt, um das Verständnis von Geschichte in einer postkolonialen
Demokratie zu fördern.
Ein Höhepunkt der bundesweiten Aktionswoche des neugegründeten Netzwerkes
„Historiker:innen für eine demokratische Gesellschaft“ (hist4dem) war eine
Gesprächsrunde mit Vertretern von Zivilgesellschaft und Wissenschaft am
Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz (IEG). Die Runde
unter dem Titel „Geschichte in der postkolonialen Demokratie“ widmete sich
gezielt dem Verständnis des „Postkolonialen“ in Theorie, Geschichte und
Alltagspraxis. Wie die Initiatoren, die Mainzer Historiker Kilian Harrer
vom IEG und Andreas Frings von der Johannes Gutenberg-Universität (JGU),
im Vorfeld ausführten, stellten postkoloniale Perspektiven keine
verzichtbaren, oder gar abstrusen Unternehmungen dar, wie in jüngster Zeit
oft zu hören sei, sondern sie seien für „ein gutes demokratisches
Zusammenleben notwendig“. Sie beinhalteten eine positive Vision von einer
solidarischen Demokratie, die sich gerade auch gegen die aktuelle
Normalisierung völkischen Denkens in Deutschland und gegen
demokratiefeindliche Bestrebungen richte. So führten denn auch mehrere
Redner aus, dass die deutsche Demokratie unausweichlich eine postkoloniale
sei, denn die Gesellschaft hierzulande könne gar nicht anders, als mit den
Nachwirkungen und Verstrickungen des deutschen und europäischen
Kolonialismus zu leben.
Impulse und Diskussionsbeiträge kamen von Prof. Dr. Thomas Blank, Dr.
Kilian Harrer, Benan Şarlayan, Aline Meyenberg M.A., Dr. Marlène Harles,
Dr. Anne-Maria Brandstetter, Prof. Dr. Nicole Reinhardt, Dr. Andreas
Frings, Ronald Uhlich, Dr. Bernhard Gißibl.

Wie die Initiatoren Harrer und Frings im Vorfeld ausführten, stellten
postkoloniale Perspektiven keine verzichtbaren, oder gar abstrusen
Unternehmungen dar, wie in jüngster Zeit oft zu hören sei, sondern sie
seien für „ein gutes demokratisches Zusammenleben notwendig“. Sie
beinhalteten eine positive Vision von einer solidarischen Demokratie, die
sich gerade auch gegen die aktuelle Normalisierung völkischen Denkens in
Deutschland und gegen demokratiefeindliche Bestrebungen richte. So führten
denn auch mehrere Redner aus, dass die deutsche Demokratie unausweichlich
eine postkoloniale sei, denn die Gesellschaft hierzulande könne gar nicht
anders, als mit den Nachwirkungen und Verstrickungen des deutschen und
europäischen Kolonialismus zu leben.
Andreas Frings hob eingangs hervor, dass die AfD in Hessen und die Freien
Wähler im rheinland-pfälzischen Landtag nicht von ungefähr Auskunft über
die universitäre Lehre zu postkolonialer Theorie verlangt hätten. Rechte
Politiker, teilweise mit Unterstützung aus der Wissenschaft, würfen
postkolonialen Ansätzen Schwarz-Weiß-Malerei, „Anti-Universalismus“,
„Wokismus“ und „inhärenten Antisemitismus“ vor. Hier müssten die
Alarmglocken schrillen – nicht nur, weil die Freiheit von Lehre und
Forschung berührt sei, sondern weil es auch um außerwissenschaftliche
Konflikte und Auswirkungen gehe. Kilian Harrer skizzierte, dass aus
postkolonialer Warte stets zu fragen sei: „Wessen Stimmen werden nicht
gehört? Wer spricht für wen und über wen?“ Dabei sei Postkolonialismus
nicht nur eine Perspektive, sondern auch eine Diagnose, die Denk- und
Redemuster kritisch und selbstkritisch befrage.
Die Historikerin Aline Meyenberg (JGU Mainz) erläuterte, dass die
Osteuropäische Geschichte vom Vergleich zwischen postsowjetischen und
postkolonialen Staaten aktuell profitiere. Im russischen Angriffskrieg auf
die Ukraine würden von den Angreifern permanent koloniale Narrative von
Rückständigkeit und Zivilisierungsmission als Rechtfertigung benutzt.
Der Historiker Bernhard Gißibl (IEG), der die Stadtgeschichte Mannheims
postkolonial erforscht, versteht Postkolonialismus als Lernprozess,
weswegen der Vorwurf des „absoluten Deutungsanspruchs“ falsch sei.
Vielmehr fordere der Postkolonialismus das Gegenteil, nämlich die Aufnahme
von Stimmen, die bislang nicht gehört wurden, und ebenso die Öffnung des
akademischen Betriebs für Subalterne.
Für die Alte Geschichte erläuterte Thomas Blank (JGU Mainz), dass die
Antike nicht „präkolonial“, sondern auch durch „imperiale Machtstrukturen“
geprägt gewesen sei. Postkolonialismus öffne hier neue Perspektiven, etwa
die Infragestellung des „griechischen Wunders“ oder eine Neudefinition des
„klassischen“ Fächerkanons.
Aus der Praxis berichtete Fußballer Ronald Uhlich, Mitbegründer von FC
Ente Bagdad, von Integration auf dem Fußballplatz. Auf der einen Seite
bade man aus, „was der Kolonialismus uns eingebrockt hat“, auf der anderen
Seite kümmere man sich um Menschen in Not und auf der Flucht. Fußball
verbinde Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen und
Erinnerungskulturen. „Wir leben Geschichte“, assistierte Ilona Rubin (FC
Ente Bagdad), die auf Ballkünstler aus 25 Nationalitäten in ihren Reihen
verwies.
Die Ethnologin Anne-Maria Brandstetter (JGU Mainz) und die Kuratorin
Marlène Harles (Kunsthalle Mainz) blickten zurück auf 29 postkoloniale
Stadtrundgänge durch Mainz in anderthalb Jahren. Sie stellten die Frage,
wie „der Raum, in dem wir leben“, aussieht und welche Möglichkeiten der
Veränderung er bietet.
Dass sich postkoloniale Perspektiven nur sehr schwer in den
Geschichtsunterricht einbringen lassen, stellte der Frankfurter Lehrer
Benan Şarlayan frustriert fest. Postkoloniale Perspektiven fehlten fast
völlig in Schulbüchern, vielmehr reproduziere der Unterrichtsstoff häufig
genug koloniale Denkweisen. Um hier voranzukommen, müsse man „die
Lehrpläne aufbrechen“.
Nicole Reinhardt, Direktorin des IEG, merkte an, dass es auch koloniale
Streitkräfte waren, die den 8. Mai, an dem die Diskussionsrunde stattfand,
zu einem Tag der Befreiung vom Faschismus gemacht hätten. Europa seit der
so genannten „Entdeckung“ Amerikas könne gar nicht ohne koloniale
Zusammenhänge gedacht werden.
In der Diskussion mit dem Publikum stand zum einen die Frage im Zentrum,
wie die Situation an den Schulen angesichts der „Beharrungskräfte“
verbessert werden könne. Schüler und Studenten, so die Forderung, sollten
besser mit postkolonialen Sichtweisen vertraut gemacht werden, besonders
in Fach Geschichte sei dies wichtig. Hier sahen die versammelten
Historiker durchaus einen Hoffnungsschimmer angesichts eines sichtbaren
Interesses bei Studierenden und Verlagen.

Zum anderen wurde die Frage aufgeworfen, wie es gelingen könne, die
Diskurshoheit nicht den Gegnern des Postkolonialismus zu überlassen und
sich nicht auf deren Debattenniveau herabzulassen. Gegen Verzerrung sei
Differenzierung zwar nötig, aber nicht immer erfolgreich. Zudem gehe es
bei der laufenden Kampagne gegen das vielstimmige postkoloniale
Forschungsfeld nicht allein um wissenschaftliche, sondern auch um
politische und gesellschaftliche Fragen. Daher plädierten mehrere
Wortmeldungen für eine stärkere Vernetzung von Zivilgesellschaft und
Wissenschaft, wofür die Gesprächsrunde in Mainz freilich ein gelungenes
Beispiel lieferte.


Gesprächsrunde mit Impulsen von Thomas Blank, Kilian Harrer, Benan
Şarlayan, Aline Meyenberg, Marlène Harles, Anne-Maria Brandstetter, Nicole
Reinhardt, Andreas Frings, Ronald Uhlich, Bernhard Gißibl (von links nach
rechts).
Bildrechte: IEG

Das IEG
Das IEG ist ein selbstständiges außeruniversitäres Forschungsinstitut und
seit 2012 Mitglied der Leibniz-Gemeinschaft. Seine Aufgabe ist die
wissenschaftliche Erforschung der europäischen Geschichte. Es betreibt und
fördert Forschungen zu den politischen, sozialen, religiösen und
kulturellen Grundlagen Europas in der Neuzeit und befasst sich mit
aktuellen Entwicklungen in den Digital Humanities. Seine Beschäftigten
forschen sowohl in Einzel- als auch Gemeinschaftsvorhaben sowie mit
internationalem wissenschaftlichem Nachwuchs, den es durch sein
angesehenes Stipendien- und Gästeprogramm fördert.

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