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80 Jahre Kriegsende in Europa: Wie stabil ist die Nachkriegsordnung?

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Wie stabil ist die Weltordnung, die sich nach 1945 herausgebildet hat –
und was passiert, wenn ihr Fundament bröckelt? Im Interview spricht die
Freiburger Historikerin Jun.-Prof. Dr. Elisabeth Piller über das fragile
transatlantische Verhältnis und historische Parallelen zwischen
Nachkriegszeiten.

Ein Gespräch über Machtverschiebungen, emotionale Brüche
– und das Ende liebgewonnener Gewissheiten.

Ist die Nachkriegsordnung, die sich nach 1945 herausgebildet hat – mit der
NATO und den USA als Garant für die deutsche Sicherheit – aktuell in
Gefahr?
Ich würde sagen, sie gerät zumindest stark ins Wanken. Die Zusammenarbeit
in der NATO war zwar schon immer konfliktträchtig (man denke nur an
Charles de Gaulle in den 1960er Jahren), aber das amerikanische
Sicherheitsversprechen wurde noch nie so eklatant in Frage gestellt. Die
deutsche Gesellschaft muss nun viele liebgewonnene Gewissheiten auf den
Prüfstand stellen, da wir es augenscheinlich mit einem Amerika zu tun
haben, das nicht nur isolationistischer, sondern vor allem
machtpolitischer denkt. Es war stets eine Grundprämisse der
Nachkriegsordnung, dass die USA ihre Hegemonialstellung multilateral und
unter öffentlicher Betonung der partnerschaftlichen Aspekte ausspielen –
zumindest gegenüber Europa.

Seit Gründung der Bundesrepublik waren die transatlantischen Beziehungen
zwischen Deutschland und den USA in den Grundfesten des
Selbstverständnisses beider Länder verankert. Wir beobachten nun eine
Distanzierung davon in hoher Geschwindigkeit durch die neue US-Regierung.
Kann eine über Jahrzehnte gewachsene Partnerschaft innerhalb weniger
Monate und Jahre zerbrechen?

Ja und nein. Die transatlantischen Beziehungen basierten stets auf einer
Kombination von gemeinsamen Interessen und gegenseitigem Vertrauen. Die
gemeinsamen Interessen sind seit Jahrzehnten geschwächt. China gilt in
Washington seit Obama als die primäre handelspolitische und potenziell
geopolitische Bedrohung, auf die sich amerikanische Ressourcen
konzentrieren sollten. Der Ukraine-Krieg und die Präsidentschaft Joe
Bidens, des wohl letzten als Politiker voll im Kalten Krieg sozialisierten
US-Präsidenten, haben hier nur eine kurze und oberflächliche Abkehr von
der bereits eingeleiteten außenpolitischen Wende gebracht beziehungsweise
die Orientierung in Richtung Asien kaschiert. Die Devise für Europa, die
eigentlich schon seit Jahrzehnten hätte gelten müssen, lautet: Wir müssen
uns sicherheitspolitisch neu positionieren; für jemanden, der – wie der
derzeitige amerikanische Präsident – außenpolitische Beziehungen als
Kosten-Nutzen-Rechnung denkt, hat Europa zu wenig zu bieten. Das heißt
aber auch: Wenn Europa den USA im Sinne eines burden sharing wieder etwas
bieten kann, werden sich auf längere Sicht auch wieder gemeinsame
sicherheitspolitische Interessen definieren lassen.

Ob das transatlantische Vertrauen wiederhergestellt werden kann, steht auf
einem ganz anderen Blatt. Internationale Beziehungen sind immer sowohl
rational als auch hochemotional, und letzteres gilt meines Erachtens in
besonderem Maße für das (west)deutsche Verhältnis zu den USA. Sicherlich
ist das europäische Misstrauen stark an die Person Trump und seinen
Vizepräsidenten geknüpft und kann dementsprechend bei einer personellen
Erneuerung auch wieder nachlassen. Gleichwohl habe ich das Gefühl, dass
gerade unter engagierten Transatlantiker*innen das Verhältnis nachhaltig
gestört sein könnte. Die USA unter Trump haben sich sehr deutlich von der
gewohnten freundschaftlichen Rhetorik verabschiedet und behandeln Europa –
wie Wolodymyr Selenskyj jüngst erfahren musste – mehr oder minder als
Klientelstaat. Das Einfordern von Dankbarkeit und Demutsgesten ist –
zumindest öffentlich – in den transatlantischen Beziehungen selten so
artikuliert worden. Selbst wenn es also gelingen sollte, die
transatlantische Interessenskongruenz wiederherzustellen, bin ich mir
nicht sicher, wie schnell und nachhaltig das transatlantische Vertrauen
repariert werden kann. Zumindest im Hinblick auf die Regierung Trump II
oder eine ähnlich gelagerte Nachfolgeregierung halte ich dies für sehr
schwierig.

Wenn Sie auf verschiedene Nachkriegszeiten aus unterschiedlichen Epochen
schauen – kann man ein Muster der verschiedenen Stufen in Bezug auf die
Post-Kriegsgesellschaften (beispielsweise Entwicklung und erneuter
Zerfall) erkennen und falls ja, wie sieht es aus?

Das lässt sich, zumindest für mich als Historikerin, nicht
verallgemeinern. Dazu sind die Nachkriegszeiten zu unterschiedlich und die
Nachkriegserfahrungen zu sehr von verschiedenen Faktoren abhängig, nicht
zuletzt vom Ausgang des Krieges. Dabei spielt nicht nur eine Rolle, ob man
selbst Besiegter oder Sieger ist (und sich als solcher fühlt), sondern
auch welche Verheerungen der Krieg im eigenen Land oder etwa in der
Weltwirtschaft hinterlassen hat.

Allerdings sind uns als FRIAS-Projektgruppe „Nachkriegszeiten“, die sich
unter anderem vergleichend mit den Nachkriegszeiten nach 1648 und nach
1945 beschäftigt, auch übergreifende Muster aufgefallen. Nachkriegszeiten
stellen Gesellschaften und Staaten oft vor ähnliche Herausforderungen,
etwa den Umgang mit Veteranen, Kriegswitwen und Kriegswaisen; sie werfen
Fragen des Wiederaufbaus und der Neuordnung auf, deren Beantwortung oft
zwischen der Rückkehr (oder der versuchten Rückkehr) zum Status quo ante
und einem radikaleren Aufbruch oszilliert. Nachkriegszeiten sind also
Zeiten des Übergangs und der Neuverhandlung. Das macht sie historisch
interessant und politisch herausfordernd: Nach dem Krieg wird oft der
gesellschaftliche Status einzelner Gruppen neu verhandelt, wird die
Gestalt von Städten diskutiert oder gar das gesamte Staatsgefüge neu
austariert. Wir sehen das nach dem Zweiten Weltkrieg beispielsweise an den
neuen oder erneuerten Verfassungen, die nicht nur in Deutschland, Japan,
Italien und Frankreich, sondern in insgesamt fast fünfzig Staaten
verabschiedet wurden. Nachkriegszeiten eröffnen also Möglichkeitsfenster
für tiefgreifende Veränderungen; sie sind aber auch geprägt vom Versuch,
die Kosten des Krieges international und national umzuverteilen, was zu
neuen Spannungen führen kann.

Ein weiterer Punkt, den Sie in der Podiumsdiskussion aufgreifen werden,
ist, inwiefern unterschiedliche historische Erfahrungen der Nachkriegszeit
nach 1945 heutige Ansichten in West und Ost beeinflussen. Die Auswirkungen
dieser Erfahrungen und der Auslegung für das eigene Land können wir
aktuell besonders bei Russland und den USA beobachten. Ist die Erfahrung
nach 1945 oder nach 1990 aus Ihrer Sicht für unsere Gegenwart prägender
und warum?

Das lässt sich schwer pauschal beantworten. Sicher ist aber, dass die
Erfahrung des Zerfalls der Sowjetunion und des internationalen
Déclassement Russlands für Wladimir Putin ein wesentlicher, auch
biographischer Einschnitt war und heute sein Handeln gegenüber der Ukraine
und dem Westen mit bestimmt. Gleichzeitig beruht seine Haltung zum Teil
auf der Wahrnehmung der Sowjetunion als eine von zwei globalen
Supermächten, die sich ja erst aus dem Sieg über Nazideutschland ergeben
hat. Die Erfahrungen und Wahrnehmungen beider Nachkriegszeiten vermischen
sich also und scheinen gerade in ihrem Zusammenspiel – als Narrativ von
„Aufstieg und Niedergang“ – besonders wirkmächtig zu sein.

Ich würde aber auch sagen, dass für Donald Trump die Nachkriegszeit nach
1945 äußerst prägend ist. Der Slogan „Make America Great Again“ wirft die
Frage auf, welches Amerika wiederhergestellt werden soll beziehungsweise
wann Amerika denn nun eigentlich „great“ war. Das Amerika, auf das sich
Trump bezieht, ist zumindest gefühlt das Amerika der Nachkriegsjahre, in
dem er (Jahrgang 1946) selbst aufgewachsen ist: das prosperierende,
produzierende Amerika, das dem Rest der Welt zumindest an Wohlstand weit
überlegen war. Natürlich spielt auch für Trump und seine Anhänger*innen
die Zäsur von 1989 eine Rolle. Der unipolare Moment der frühen 1990er
Jahre hat sicherlich die Vorstellung einer amerikanischen
Hegemonialstellung beflügelt, während die dritte Globalisierungswelle nach
dem Ende des Kalten Krieges auch den Niedergang vieler traditioneller
amerikanischer Industriezweige beschleunigte.

Wie wirken sich diese Erfahrungen auf das Handeln Putins und Trumps in
Bezug auf die EU, die Ukraine und den Israel-Gaza-Konflikt aus?

Das werden wir in der Podiumsdiskussion eingehend besprechen und ich bin
froh, dass wir auf die Expertise einiger ausgewiesener
Osteuropaexpert*innen zurückgreifen können. Bezeichnend für Trump scheint
mir, dass die amerikanische Unterstützung Israels – ein Produkt der
Nachkriegsjahre – einen sehr hohen Stellenwert einnimmt. Es wäre sicher
interessant zu überlegen, warum Israel im Gegensatz zu Europa immer noch
so stark auf die amerikanische Unterstützung zählen kann.

Relevant erscheint mir auch Donald Trumps sehr unternehmerische Sicht auf
Fragen des Wiederaufbaus. Man denke nur an seine Aussage im Februar, die
USA würden nach dem Krieg den Gazastreifen übernehmen, würden dort
blühende Landschaften aufbauen und endlich das touristische Potenzial des
langen Küstenstreifens ausschöpfen. Der Bauunternehmer Trump sah bereits
exklusive Hotelbauten mit Privatstränden vor sich und sprach von einer
„Riviera des Nahen Ostens“. Man mag das absurd finden – aber dahinter
steht das durchaus drängende Problem, wie man mit einem zerstörten,
verminten, im Zweifelsfall unbefriedeten Land und seiner Bevölkerung
umgeht. Trumps Blick ist dabei von seinem eigenen beruflichen Hintergrund
geprägt, scheint mir aber auch stark von amerikanischen
Wiederaufbauprogrammen wie dem Marshallplan beeinflusst.
Über all diese Fragen und auch darüber, wie eine stabile Nachkriegsordnung
gestaltet werden kann, wenn die Grundlagen unserer eigenen
Nachkriegsordnung ins Wanken geraten, wollen wir am kommenden Montag
diskutieren.

Zur Person
Jun.-Prof. Dr. Elisabeth Piller ist seit November 2020 Juniorprofessorin
am Historischen Seminar der Universität Freiburg, wo sie zur Geschichte
der Vereinigten Staaten und der transatlantischen Beziehungen forscht und
lehrt. Ihre Forschung beschäftigt sich mit amerikanischer Außenpolitik und
dem Verhältnis zwischen den USA und Europa seit dem ausgehenden 19.
Jahrhundert. Ihr aktuelles Forschungsprojekt "The Good Samaritan of All
the World - US Humanitarians, Postwar Europe and the Making of the
American Century" widmet sich der amerikanischen humanitären Auslandshilfe
nach dem Zweiten Weltkrieg und zeichnet den Aufstieg der USA zur
(humanitären) Supermacht nach. Piller ist Principal Investigator der
Exzellenzclusterinitiative ConTrans: Constitution as Practice in Times of
Transformation sowie Mitglied der FRIAS-Projektgruppe Nachkriegszeiten.
2024 erhielt sie einen ERC Synergy Grant für ihr Forschungsprojekt
„BLOCKADE – The Hidden Weapon. Blockade in the Era of the World Wars“.

Podiumsdiskussion: 1945 | 2025: Nachkriegszeiten. Historische Erfahrungen
und gegenwärtige Herausforderungen
Anlässlich des 80. Jahrestages des Endes des Zweiten Weltkrieges
diskutieren Expert*innen aus Politik- und Geschichtswissenschaft am 28.
April die historische Erfahrung von Nachkriegszeiten – nicht zuletzt “der”
Nachkriegszeit nach 1945 – und ihre Bezüge zu aktuellen Kriegen,
insbesondere dem Krieg in der Ukraine.
Wann: 19:00-20:30 Uhr
Wo: Universität Freiburg, KG I, Aula
Weitere Infos: https://uni-freiburg.de/frias/freiburger-
horizonte-1945-2025-nachkriegszeiten/

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