Vom Reststoff zum Rohstoff: Smarte Tools für eine nachhaltige Bioökonomie
Wegweiser für landwirtschaftliche Nebenströme: Zwei unter Leitung der
Universität Hohenheim entwickelte Werkzeuge helfen, unausgeschöpftes
Potenzial aufzuzeigen.
Ob Getreidestroh, Spelzen oder Blätter und Stängel von Gemüse: Rund 7,7
Millionen Tonnen landwirtschaftliche Nebenprodukte fallen allein in Baden-
Württemberg jährlich in landwirtschaftlichen Betrieben an, hinzu kommen
viele Tonnen aus der Verarbeitung von überwiegend Lebensmitteln. Sie
werden derzeit meist in der Tierhaltung eingesetzt oder verbleiben auf den
Feldern. Dabei könnte ein großer Teil zu hochwertigen Produkten
verarbeitet werden, ohne den Humusaufbau zu gefährden – von Proteinen für
die Lebensmittelindustrie bis hin zu Verpackungsmaterialien. Zwei neue,
innovative Werkzeuge erleichtern nun die Einordnung dieses Potenzials: die
ReBioBW Factsheets und das ReBioBW GIS-Tool. Entwickelt haben sie
Forscherinnen und Forscher der Universität Hohenheim in Stuttgart und des
Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Sie können landwirtschaftliche
Betriebe und Unternehmen bei der Etablierung neuer Veredelungsverfahren
und Geschäftsmodelle unterstützen, der Politik helfen die richtigen
Rahmenbedingungen zu setzen und sie können in der Ausbildung eingesetzt
werden und allen Interessierten einen schnellen Einstieg in die komplexe
Thematik bieten. Die Tools sind ab sofort kostenfrei verfügbar:
https://rebiobw.uni-hohenheim.
In landwirtschaftlichen Nebenströmen sind wertvolle Inhaltsstoffe
enthalten, die diese als Rohstoff für vielfältige Anwendungen attraktiv
machen. Sie könnten dazu beitragen fossile Rohstoffe zu ersetzen, CO₂-
Emissionen zu reduzieren und eine ressourceneffiziente Kreislaufwirtschaft
aufzubauen.
Doch noch gibt es viele offene Fragen: Welches Potenzial verbirgt sich
hier wirklich? Welche Mengen an Nebenströmen sind tatsächlich vorhanden?
Wie viel kann durch neue Technologien aus bestehenden Stoffströmen
herausgeholt und zu Rohstoffen für die Industrie umgewandelt werden? Wie
können neue Technologien nachhaltig eingesetzt und zugleich
Nährstoffkreisläufe beachtet werden? Welche Chancen ergeben sich aus der
Reststoff-Nutzung für neue regionale Wertschöpfungsketten im ländlichen
Raum?
Antworten auf diese Fragen geben Forschende im Kooperationsprojekt ReBioBW
unter Leitung von Prof. Dr. Franziska Schünemann im Rahmen der
Landesstrategie „Nachhaltige Bioökonomie für Baden-Württemberg“.
„Wissen über die Bedürfnisse der Landwirtschaft sowie die Anforderungen
und Chancen einer industriellen Nutzung landwirtschaftlicher Nebenprodukte
ermöglicht Landwirt:innen und Unternehmen gemeinsam innovative
Geschäftsmodelle auf Basis lokaler Rohstoffe zu entwickeln. So können
nachhaltige und effiziente Kreisläufe entstehen“, betont Marius Boesino,
Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Bioökonomie der
Universität Hohenheim.
ReBioBW Factsheets: 350 Rohstoffquellen im Blick
Die neuen Tools leisten hierzu einen wesentlichen Beitrag, indem sie
Informationen bündeln und visualisieren, die bislang schwer zugänglich
waren. So erfassen die ReBioBW Factsheets über 350 Nebenströme und bieten
detaillierte Informationen zu ihren Inhaltsstoffen.
Dabei berücksichtigen sie eine Vielzahl an denkbaren
Verwertungsmöglichkeiten: Von der Gewinnung von Proteinen und
Ballaststoffen für die Lebensmittel-, Pharma- oder Kosmetikindustrie über
die Verwendung als Dämm- und Verpackungsmaterialien für die Bauindustrie
bis hin zu sogenannten Plattformchemikalien für die Chemieindustrie.
ReBioBW GIS-Tool: Interaktive Karte für Nebenstrombiomassepotenziale
Diese Informationen ergänzt das ReBioBW GIS-Tool durch eine interaktive
Karte, die das theoretisch verfügbare Biomassepotenzial der pflanzlichen
Nebenströme in Baden-Württemberg bis auf Gemeindeebene aufschlüsselt und
visualisiert. Dabei steht die Abkürzung GIS für „Geographisches
Informationssystem“.
Farbige Abstufungen ermöglichen es Unternehmen und Landwirt:innen, auf
einen Blick zu erkennen, welche Rohstoffe in ihrer Region in welcher Menge
vorkommen. Ein zentrales Anliegen von ReBioBW ist es, Chancen für eine
neue regionale bioökonomische Wertschöpfung aufzuzeigen. Die Nutzung von
Nebenströmen eröffnet Landwirt:innen die Perspektive auf neue
Einkommensquellen und kann gerade im ländlichen Raum Arbeitsplätze
schaffen.
ReBioBW ermöglicht das Schließen von Stoffkreisläufen
Neben großen Chancen weisen landwirtschaftliche Nebenströme aber auch
Herausforderungen auf. So darf ihre Nutzung weder den Humusaufbau noch die
Kohlenstoffspeicherung im Boden gefährden. Auch müssen bereits bestehende
Verwendungsmöglichkeiten wie zum Beispiel als Tierfutter berücksichtigt
werden. ReBioBW verfolgt deshalb einen ganzheitlichen Ansatz, um solche
Zielkonflikte zu vermeiden.
Die Daten und Erkenntnisse aus den ReBioBW Factsheets und dem GIS-Tool
bilden die Grundlage für weitere Innovationsschritte. „Entscheidend ist,
dass wir verlässliche und innovationsfreudige Rahmenbedingungen für die
Wirtschaft schaffen. So entstehen gerade im ländlichen Raum in Baden-
Württemberg spannende Innovationsräume, die dabei helfen, dass
Forschungseinrichtungen ihr Wissen mit dem der landwirtschaftlichen Praxis
und der Industrie verknüpfen können und Innovationen so noch stärker
vorantreiben“, sagte der Minister für Ernährung, Ländlichen Raum und
Verbraucherschutz, Peter Hauk MdL.
„Neue Anbau-, Ernte- und Verarbeitungstechnologien dürfen sich nicht nur
auf die Hauptfrüchte konzentrieren. Sie müssen auch Nebenströme als
Koppelprodukte gezielt einbeziehen“, betont Dr. Evelyn Reinmuth, Leiterin
der Geschäftsstelle Bioökonomie an der Universität Hohenheim. So sollten
die Anbauverfahren von vornherein eine für die Kaskadennutzung geeignete
Nebenstromqualität gewährleisten, damit dieselbe Biomasse mehrfach genutzt
werden kann.
Beispielsweise können Trester, die bei der Herstellung von Fruchtsäften
anfallen, für vielfältige Anwendungen in der Lebensmittelindustrie, aber
auch in der pharmazeutischen, kosmetischen und chemischen Industrie
genutzt werden: „Dazu müssen sie allerdings bis zur Verarbeitung richtig
gelagert und so stabilisiert werden, dass weder enzymatische Prozesse die
Verwertung der wertvollen Inhaltsstoffe verhindern, noch
gesundheitsschädliche Belastungen, etwa durch Schimmelpilze, entstehen“,
erklärt Dr. Reinmuth.
Sofern die Nebenströme durch ein nachhaltiges Verfahren aufbereitet
werden, können die verbleibenden Reststoffe dann in die Biogasproduktion
einfließen und die in den Gärprodukten enthaltenen Nährstoffe wieder auf
landwirtschaftliche Flächen ausgebracht werden.
HINTERGRUND: Potenziale landwirtschaftlicher Reststoffe für die
Bioökonomie in Baden-Württemberg (ReBioBW)
Das Verbundprojekt ReBioBW, in dem die Universität Hohenheim mit dem
Karlsruher Institut für Technologie (KIT) zusammenarbeitet, setzt eine
Maßnahme der ressortübergreifenden Landesstrategie Nachhaltige Bioökonomie
Baden-Württemberg (LSNB) um, mit der das Land zu einer Leitregion für
biobasiertes, kreislauforientiertes Wirtschaften entwickelt wird. Die
Ergebnisse dienen auch als Grundlage für die zweite Phase der LSNB, die
dieses Jahr an den Start geht.
Das Ministerium für Ernährung, Ländlichen Raum und Verbraucherschutz
Baden-Württemberg (MLR) fördert das Vorhaben mit rund 630.000 Euro. Davon
erhält die Universität Hohenheim gut 475.000 Euro, was das Projekt zu
einen „Schwergewicht der Forschung“ macht.
HINTERGRUND: Schwergewichte der Forschung
37,7 Millionen Euro an Drittmitteln akquirierten Wissenschaftler:innen der
Universität Hohenheim 2023 für Forschung und Lehre. In loser Folge
präsentiert die Reihe „Schwergewichte der Forschung“ herausragende
Forschungsprojekte mit einem finanziellen Volumen von mindestens 350.000
Euro für apparative Forschung bzw. 150.000 Euro für nicht-apparative
Forschung.
Text: Stuhlemmer
Weitere Informationen
> ReBioBW: https://rebiobw.uni-hohenheim.
> ReBioBW Factsheets: https://doi.org/10.5281/zenodo
> ReBioBW GISTool: https://rebiobw.uni-hohenheim.
> Bioökonomie − Leitthema der Uni Hohenheim: https://biooekonomie.uni-
hohenheim.de/
> Expertenliste Bioökonomie: https://www.uni-hohenheim.de/e
biooekonomie
> Landesstrategie Nachhaltige Bioökonomie: https://um.baden-
wuerttemberg.de/de/umwelt-natu
/landesstrategie-nachhaltige-b