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Koalitionsvertrag: Auf dem Weg in ein erwachsenes Einwanderungsland?

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Der Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) begrüßt das
Bekenntnis des Koalitionsvertrags zur Umsetzung des gemeinsamen
europäischen Asylsystems (GEAS) als wichtigen Beitrag zu einer
verbesserten Migrationssteuerung. Maßnahmen wie Zurückweisungen an
deutschen Grenzen sieht er weiterhin kritisch.

Die geplante Vereinfachung
des Rechts, klarere Zuständigkeiten und damit verbundene
Effizienzsteigerungen im Bereich der Erwerbsmigration sind ebenso zu
unterstützen wie die geplante Fortsetzung von Integrationsmaßnahmen und zu
Investitionen in Bildung.

„Dass die künftigen Regierungspartner Deutschland weiterhin als
weltoffenes und einwanderungsfreundliches Land sehen, ist eine wichtige
Botschaft im Koalitionsvertrag“, sagt Prof. Winfried Kluth, Vorsitzender
des SVR. „Dazu passt es, die qualifizierte Einwanderung in den
Arbeitsmarkt zu stärken. Das ist angesichts des demografischen Wandels und
bereits bestehender Arbeits- und Fachkräfteengpässe auch nötig.“ Zu
begrüßen ist, dass dabei der Fokus vor allem einer verbesserten Umsetzung
gelten soll, wie es auch der SVR empfohlen hatte: bürokratische Hürden
sollen beseitigt, Berufsqualifikationen schneller anerkannt, die
Digitalisierung vorangetrieben, Aufgaben gebündelt und Prozesse
beschleunigt werden. Hierzu kann die geplante digitale Agentur für
Fachkräfteeinwanderung ein wichtiger Schritt sein. Auch dass Regelungen im
Aufenthaltsgesetz vereinfacht werden, kann hierzu einen Beitrag leisten,
ebenso eine gestärkte Rolle der Arbeitgeberseite im Rekrutierungsprozess.
„Das ist auch im Sinne der vom Koalitionsvertrag angekündigten
Aufgabenkritik“, so der SVR-Vorsitzende.

Auch das Vorhaben, mehr in Integration zu investieren, Integrationskurse
fortzusetzen und die Sprach-Kitas wieder einzuführen, das Startchancen-
Programm fortzusetzen und auf Kitas auszuweiten, begrüßt der SVR
angesichts ihrer großen Bedeutung für gleiche Teilhabevoraussetzungen:
„Zentral für mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit ist die
Sprachförderung. Sprache ist der Schlüssel für den Bildungserfolg. Es ist
daher richtig, schon frühzeitig im Kindergartenalter den Sprach- und
Entwicklungsstand aller Kinder zu ermitteln, um gezielte Förderung
anzuschließen. Die Sprach-Kitas und Startchancen-Kitas können hierzu einen
wichtigen Beitrag leisten“, so die stellvertretende Vorsitzende Prof.
Birgit Glorius.

Mit Blick auf die von den künftigen Koalitionären angestrebte Begrenzung
der Migration kommt der GEAS-Reform aus Sicht des SVR eine zentrale
Bedeutung zu. „Dass der Koalitionsvertrag sich zum individuellen
Grundrecht auf Asyl, zur Umsetzung der GEAS-Reform und zu rechtstaatlichen
Mitteln bekennt, ist eine gute Nachricht“, so der SVR-Vorsitzende. „Die
GEAS-Umsetzung wird begrenzende Effekte haben und sollte rasch eingeleitet
werden. Hier kommt es auf die enge Kooperation mit den europäischen
Nachbarstaaten an, wenn es etwa darum geht, eine schutzsuchende Person in
den zuständigen Mitgliedstaat zu überführen. Entsprechende
menschenrechtskonforme Verfahren müssen nun entwickelt werden und das
Gesetz zur Umsetzung rasch beschlossen.“

Dass der Koalitionsvertrag weiterhin Zurückweisungen an den deutschen
Grenzen auch von Asylsuchenden vorsieht, sieht der SVR dagegen weiterhin
als europarechtswidrig an. Das Beenden freiwilliger Aufnahmeprogramme ist
aus Sicht des SVR mit Blick auf das legitime Steuerungsziel paradox: „Hier
gibt die Regierung ein Instrument aus der Hand, mit der sich legale
Zuwanderung steuern und irreguläre Migration verringern lässt“, so Prof.
Kluth. Skeptisch zu sehen ist auch, dass das Amtsermittlungsprinzip in
Asylverfahren wegfallen soll. „Dieser Systemwechsel ist rechtsstaatlich
bedenklich, denn er verletzt den Grundsatz der Gleichheit im
Verwaltungsverfahren und öffnet das Tor für Willkür.“ Die geplante
Erweiterung der Liste der sicheren Herkunftsstaaten unterstützt der SVR
grundsätzlich, erinnert aber zugleich an sein Plädoyer, dass es hierzu
transparente Kriterien braucht.

Die Wohnsitzregelung soll wieder zur Regel, Ausnahmetatbestände reduziert
werden. „Sofern dies im Sinne der Aufnahmestrukturen in den Kommunen nötig
ist, kann dies eine Zeitlang akzeptabel sein. Bei nachlassender Anspannung
in den Kommunen sollte dann wieder eine Rückkehr zum Status quo erfolgen,
da wissenschaftlich nicht belegt werden konnte, dass die Wohnsitzauflage
eine raschere Arbeitsmarktintegration bewirkt“, gibt Kluth zu bedenken.

Dass es einen befristeten Aufenthaltstitel für gut integrierte geduldete
Ausländerinnen und Ausländer geben soll, die über ausreichende
Deutschkenntnisse verfügen und durch ein bestehendes,
sozialversicherungspflichtiges Beschäftigungsverhältnis seit zwölf Monaten
ihren Lebensunterhalt überwiegend sichern und die weitere Kriterien wie
geklärte Identität und keine Straffälligkeit erfüllen, ist aus Sicht des
SVR richtig. „Diese Nachfolgeregelung zum Chancenaufenthaltsrecht baut
eine Brücke in bestehende Möglichkeiten der Regularisierung des
Aufenthalts durch gelingende Integration. Dadurch wird ein Anreiz für
weitere Integration gesetzt und erreichte Teilhabeerfolge werden
honoriert“, so die stellvertretende SVR-Vorsitzende Prof. Glorius.

Auch dass die neue Koalition nicht erneut substanzielle
Richtungsänderungen im Staatsangehörigkeitsrecht plant, ist richtig. „Das
Streichen der Option einer Einbürgerung bereits nach drei Jahren erhöht
aus Sicht des SVR die Kohärenz mit dem Aufenthaltsrecht, da hier zum Teil
längere Mindestaufenthaltszeiten für das Erteilen einer
Niederlassungserlaubnis vorgesehen sind. Der Bund sollte nun die Länder
und Kommunen dabei unterstützen, den ‚Einbürgerungsstau‘ aufzulösen und
schneller über Anträge zu entscheiden. Ferner sollte die Verabschiedung
einer Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Staatsangehörigkeitsrecht
gelingen, nicht zuletzt um faire und nachvollziehbare Vorgaben zum Umgang
mit Härtefällen beim Kriterium der Lebensunterhaltssicherung zu machen.
Das würde auch die Einbürgerungsbehörden entlasten“, erklärt der SVR-
Vorsitzende Prof. Kluth.

Insgesamt ist der Koalitionsvertrag durch eine Mischung von Maßnahmen zur
deutlichen Begrenzung von Migration einerseits, einem Bekenntnis zum
Einwanderungsland, zur Einwanderung von Fachkräften und gestärkter
Integrationsförderung auch für Asylsuchende andererseits geprägt.
Angesichts der Herausforderungen, vor denen Deutschland derzeit steht, zu
denen auch der starke Zuzug von Geflüchteten der vergangenen Jahre und
eine stärker polarisierte Debatte zählen, lässt sich der Koalitionsvertrag
im Bereich Integration und Migration als Versuch beschreiben, Deutschland
als erwachsenes Einwanderungsland zu gestalten. „Ein solches macht klare
Integrationsangebote, ohne auf Steuerung und Begrenzung zu verzichten, und
formuliert zugleich klare Anforderungen an diejenigen, die zugewandert
sind. Nun sollte es darum gehen, die Vorhaben pragmatisch umzusetzen und
wieder ein selbstverständliches Miteinander in einer vielfältigen
Gesellschaft in den Vordergrund zu rücken“, so Prof. Kluth.

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Über den Sachverständigenrat:
Der Sachverständigenrat für Integration und Migration ist ein unabhängiges
und interdisziplinär besetztes Gremium der wissenschaftlichen
Politikberatung. Mit seinen Gutachten soll das Gremium zur Urteilsbildung
bei allen integrations- und migrationspolitisch verantwortlichen Instanzen
sowie der Öffentlichkeit beitragen. Dem SVR gehören neun
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen und
Forschungsrichtungen an: Prof. Dr. Winfried Kluth (Vorsitzender), Prof.
Dr. Birgit Glorius (Stellvertretende Vorsitzende), Prof. Dr. Havva Engin,
Prof. Dr. Marc Helbling, Prof. Dr. Matthias Koenig, Prof. Sandra Lavenex,
Ph.D., Prof. Dr. Birgit Leyendecker, Prof. Panu Poutvaara, Ph.D., Prof.
Dr. Hannes Schammann.

Weitere Informationen unter: www.svr-migration.de

Originalpublikation:
www.svr-migration.de/presse/koalitionsvertrag-auf-dem-weg-in-ein-
erwachsenes-einwanderungsland/