Wissenschaftlicher Bericht zur Tiefseeforschung: Forschende fordern mehr Wissen für nachhaltiges Management
Unter Leitung von Professorin Dr. Sylvia Sander
vom GEOMAR hat eine Gruppe führender Meereswissenschaftler:innen ein
Positionspapier zum Thema Tiefseeforschung und -management erarbeitet. Der
Bericht gibt Empfehlungen für die nachhaltigere Erforschung und
Bewirtschaftung dieses sensiblen Lebensraums.
Ohne fundiertes Wissen über
Ökosystemprozesse und Artenvielfalt seien Entscheidungen über die Nutzung
und zum Schutz der Tiefsee nicht möglich, so die Autor:innen. Sie fordern
gezielte Forschung, um Wissenslücken zu schließen. Der Bericht richtet
sich an Politik, Wissenschaft und internationale Organisationen und wird
heute in einem Online-Webinar vorgestellt.
Wo beginnt die Tiefsee? Die Definition ist in der Wissenschaft und auch
rechtlich durchaus nicht einheitlich. Für ihre gemeinsame Analyse des
Stands der Tiefseeforschung haben sich die Mitglieder der Arbeitsgruppe
„Deep Sea and Ocean Health“ des European Marine Board (EMB) auf eine Tiefe
ab 200 Metern geeinigt. Ab dieser Tiefe dringt kaum noch Sonnenlicht durch
das Wasser, und der Lebensraum verändert sich gravierend. Nach dieser
Definition macht die Tiefsee rund 90 Prozent des Volumens des Ozeans aus.
Ihre Bedeutung für die Ökosysteme und die biologische Vielfalt ist also
immens. Doch derzeit wächst der Druck auf diese zum Teil noch relativ
unberührten Lebensräume unseres Planeten: Menschliche Aktivitäten wie
Ölförderung, Fischerei und der potenzielle Bergbau am Meeresboden bedrohen
die Ökosysteme der Tiefsee, und auch der Klimawandel wirkt sich negativ
aus.
Die Arbeitsgruppe aus elf Wissenschaftler:innen hat nun ihre Analyse zum
Thema Tiefsee und Ozeangesundheit mit zehn Empfehlungen vorgelegt. Unter
der Leitung von Prof. Dr. Sylvia Sander, Professorin für Marine
Mineralische Rohstoffe am GEOMAR Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung und
Dr. Christian Tamburini vom Mediterranean Institute of Oceanography (MIO)
erarbeiteten sie den Bericht, der heute vom EMB im Rahmen eines Webinars
vorgestellt wird. Das Dokument unterstreicht unter anderem die
Notwendigkeit erheblicher Investitionen in die Tiefseeforschung, um
Wissenslücken zu schließen und Informationen für wissenschaftlich
fundierte Entscheidungen beispielsweise über Tiefseebergbau
bereitzustellen.
„Der Ozean ist ein zusammenhängendes System, das von der Küste bis in die
tiefsten Tiefen reicht“, betont Sylvia Sander, „und selbstverständlich
kann die Tiefsee nicht losgelöst von der photischen – der
lichtdurchfluteten – Zone oder dem Meeresboden betrachtet werden.“ Daher
seien Tiefseeforschung, -nutzung und -schutz untrennbar mit der
Ozeangesundheit verbunden.
Zehn Empfehlungen für nachhaltigen Tiefseeschutz und bessere
Zusammenarbeit:
1. Effektive Regulierung menschlicher Aktivitäten
2. Einrichtung eines internationalen Komitees für Tiefsee-
Nachhaltigkeit
3. Entwicklung standardisierter Methoden zur
Umweltverträglichkeitsprüfung
4. Förderung transdisziplinärer Forschungsprogramme
5. Investition in langfristige Tiefsee-Monitoring-Projekte
6. Vertiefung des Verständnisses globaler Tiefseeprozesse durch groß
angelegte, interdisziplinäre Langzeitforschungsprojekte
7. Forschungsförderung in Bereichen wie Genomsequenzierung und
biogeochemischer Prozesse
8. Aufbau globaler Kapazitäten für Tiefseeforschung
9. Technologietransfer in unterrepräsentierte Regionen
10. Implementierung der FAIR-Prinzipien für Tiefsee-Daten
Die Tiefsee: Unverzichtbare Ökosysteme für das Leben auf der Erde
Dass in den dunklen, kalten Tiefen des Meeres, wo extrem hoher Druck
herrscht, überhaupt Leben existieren könnte, wurde bis zum Ende des 19.
Jahrhunderts bezweifelt, als mit dem Beginn der Tiefseeforschung zum
ersten Mal dort lebende Organismen entdeckt wurden. Heute weiß die
Forschung, dass die Tiefsee eine große Vielfalt an Lebensformen birgt. An
Kontinentalhängen, auf den abyssalen Tiefebenen oder an
Hydrothermalquellen, den sogenannten Schwarzen Rauchern, gibt es komplexe
Ökosysteme, über die noch wenig bekannt ist.
Wissenslücken: Vieles ist noch unerforscht
Schätzungsweise 90 Prozent aller Organismen in der Tiefsee sind noch nicht
beschrieben und ihre Funktionen innerhalb des Ökosystems unbekannt. Auch
in der physikalischen Ozeanographie gibt es große Lücken, etwa bei der
Modellierung von Tiefenströmungen, die entscheidend für den Transport von
Nähr- und Schadstoffen sind. In der Geochemie ist unklar, wie
biogeochemische Kreisläufe in der Tiefsee durch menschliche Eingriffe wie
Tiefseebergbau beeinflusst werden. So ist beispielsweise noch wenig
darüber bekannt, wie Sedimentwolken, die durch den Abbau von Manganknollen
entstünden, sich ausbreiten und welche langfristigen Folgen sie für die
Lebensgemeinschaften am Meeresboden hätten. Schließlich gibt es auch
technische Herausforderungen: Viele moderne Sensoren und Monitoring-
Systeme sind für extreme Tiefen unzureichend entwickelt, was die Erfassung
wichtiger Parameter erschwert. Diese Wissenslücken müssten dringend
geschlossen werden, um wissenschaftlich fundierte Entscheidungen für die
Tiefseebewirtschaftung zu ermöglichen, mahnen die Wissenschaftler:innen
an.
Die Herausforderung: Bedrohung der Tiefsee durch menschliche Aktivitäten
Was wir allerdings gesichert wissen: Der Ozean, dessen größten Teil die
Tiefsee ausmacht, speichert große Mengen CO₂ und Wärme, was zur Minderung
des Klimawandels beiträgt, er spielt eine Schlüsselrolle im globalen
Kohlenstoffkreislauf und produziert als „Lunge des Planeten“ mehr als 50
Prozent des Sauerstoffs. Störungen in diesen Funktionen könnten
gravierende globale Folgen haben. Um den Erhalt dieser
Ökosystemdienstleistungen zu sichern, sind fundierte Schutzmaßnahmen und
nachhaltige Nutzungsstrategien dringend erforderlich.
Denn die Auswirkungen menschlichen Handelns beeinträchtigen die Tiefsee in
vielfacher Hinsicht. Veränderungen, die in menschlichen Zeitskalen schon
nicht mehr rückgängig gemacht werden können, wie Erwärmung, Versauerung
und Sauerstoffmangel bedrohen die sensiblen Lebensräume. Gleichzeitig
gefährdet die Übernutzung von Fischbeständen und nicht erneuerbarer
Ressourcen wie Öl, Gas und Mineralien die Biodiversität und
Ökosystemfunktionen.
Dringender Handlungsbedarf für die Ozeangesundheit
2025 sei ein entscheidendes Jahr, um Maßnahmen für die Gesundheit des
Ozeans zu ergreifen, sind sich die Wissenschaftler:innen einig: Es sei
entscheidend, den Kampf gegen den Klimawandel jetzt wirksam anzugehen, um
die angestrebten Netto-Null-Emissionen bis 2050 zu erreichen. Sylvia
Sander: „Der Klimawandel ist eine der besorgniserregendsten Bedrohungen
für unsere Lebensgrundlagen und das Leben auf der Erde überhaupt. Zusammen
mit dem Verlust der Artenvielfalt könnte er in naher Zukunft zu
erheblichen und irreversiblen Störungen des gesamten Ozeans,
einschließlich der Tiefsee und den von Schnee und Eis bedeckten Teilen der
Erde führen.“
Die Rolle der EU: Wie Europa den Schutz der Tiefsee vorantreiben kann
Die Arbeitsgruppe betont, dass Europa eine führende Rolle beim
internationalen Schutz und der nachhaltigen Bewirtschaftung der Tiefsee
übernehmen sollte, insbesondere im Rahmen bestehender internationaler
Abkommen.
„Die EU könnte bei den internationalen Bemühungen um eine bessere Regelung
der Tiefseeaktivitäten eine wichtige Rolle spielen“, sagt Sylvia Sander,
„dafür braucht es die Einrichtung wissenschaftlicher Ausschüsse für den
Tiefseeschutz und die Entwicklung standardisierter Folgenabschätzungen.“
Außerdem fordern die Forschenden eine gesicherte Finanzierung
transdisziplinärer Forschung und langfristiger Überwachung. Sylvia Sander:
„Wir müssen besser verstehen, wie es dem Ozean geht, um die Tiefsee zu
schützen und nachhaltig zu nutzen – wo zeigen sich Veränderungen?“ Dafür
brauche es mehr Forschung und Technik. „Außerdem müssen wir
unterrepräsentierte Nationen in der Tiefseeforschung mehr unterstützen und
die Wissenschaft als Menschenrecht anerkennen. Nur so können wir die
Gesundheit des Ozeans und des Planeten für künftige Generationen sichern.“
Hintergrund: European Marine Board
Das European Marine Board (EMB) ist ein Zusammenschluss von 38
Organisationen aus 19 europäischen Ländern, die sich für die
Meeresforschung engagieren. Es wurde 1995 gegründet, um die Zusammenarbeit
in der europäischen Meereswissenschaft zu stärken und gemeinsame
Forschungsstrategien zu entwickeln. Das EMB dient als Schnittstelle
zwischen Wissenschaft und Politik, unterstützt den Wissensaustausch und
gibt Empfehlungen an nationale Behörden und die Europäische Kommission, um
die Meeresforschung in Europa voranzubringen. Zu den Mitgliedern gehören
führende ozeanografische Institute, Forschungsförderer und Universitäten
mit marinem Schwerpunkt.
Originalpublikation:
Sander, S. G., Tamburini, C., Gollner, S., Guilloux, B., Pape, E., Hoving,
H. J., Leroux, R., Rovere, M., Semedo, M., Danovaro, R., Narayanaswamy, B.
E. (2025) Deep Sea Research and Management Needs.
Muñiz Piniella, A., Kellett, P., Alexander, B., Rodriguez Perez, A., Bayo
Ruiz, F., Teodosio, M. C., Heymans, J. J. [Eds.] Future Science Brief N°.
12 of the European Marine Board, Ostend, Belgium.
https://www.marineboard.eu/pub
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