BIELEFELD: Eine ganz eigene Dynamik
In Europa gab es seit dem Mittelalter eine Veränderungsdynamik, die die
Grundlage für Europas Aufstieg im 19. und 20. Jahrhundert legte: Das war
lange die vorherrschende Meinung in der Geschichtswissenschaft.
Doch auch in anderen Ländern gab es dynamische Veränderungen und sie unterschieden sich nicht von denen in Europa. Sie vollzogen sich aber deutlich anders. Die Dynamik vormoderner Gesellschaften ist Thema der Forschungsgruppe
„Eigendynamiken. Analoge Strukturen des Wandels im vormodernen Ostasien
und Europa“ (Momentum of Their Own. Analogue Structures of Change in Pre-
Modern East Asia and Europe), die ab April am Bielefelder Zentrum für
interdisziplinäre Forschung (ZiF) arbeiten wird.
„Inzwischen sehen Historiker*innen anderer Weltregionen ihr Land ebenfalls
seit frühester Zeit auf einem je eigenen Weg in die Moderne. Darin
manifestiert sich natürlich auch das immer aktuelle Bedürfnis nach
regionaler Besonderheit“, konstatiert der Bielefelder Historiker Professor
Dr. Franz-Josef Arlinghaus: „Aber wie kann man vormoderne
Veränderungsprozesse, also solche der Zeit vor 1800, in verschiedenen
Weltregionen fassen?“ Arlinghaus leitet die Forschungsgruppe zusammen mit
der Koreanistin Professorin Dr. Marion Eggert (Bochum), der Historikerin
Professorin Dr. Ulla Kypta (Hamburg) und dem Japanologen Professor Dr.
Jörg Quenzer (Hamburg). Die Forschenden gehen davon aus, dass in Ostasien
und Europa analoge Strukturen existierten, die beständig Veränderungen
vorantrieben. Diese andauernden Veränderungen fassen sie mit dem Begriff
„Eigendynamik“. „Der Begriff wurde eigentlich von Soziolog*innen und
Politolog*innen für die Analyse von Gesellschaften der Gegenwart
entwickelt“, berichtet Marion Eggert. „In der Forschungsgruppe möchten wir
dieses Konzept für das Verständnis der vormodernen Gesellschaften
Ostasiens und Europas nutzbar machen.“
Unterschiede relativieren sich
Vormoderne Gesellschaften waren oft durch eine hierarchische, ständische
Ordnung geprägt, die im Rückblick unbeweglich wirkt. „Sucht man nach
solchen Eigendynamiken kommen dann aber beispielsweise die Bemühungen der
Menschen in den Blick, die eigene Position in dieser Ordnung zu behaupten
oder zu verbessern“, so Ulla Kypta. „Die Ständeordnung erscheint dann gar
nicht mehr als Bremse für Veränderungen, sondern als ein Motor für eine
Dynamik ganz eigener Art.“ Eigener Art, weil es nicht darum ging, eine
noch gar nicht erkennbare Moderne vorzubereiten, sondern darum, die immer
komplexer werdenden vormodernen Gesellschaften zu stabilisieren. „In
dieser Perspektive relativieren sich die Unterschiede zwischen Ostasien
und Europa, und auch die Geschichte von der sich über die Jahrhunderte
entwickelnden Moderne passt nicht mehr so richtig“, konstatiert Jörg
Quenzer. „Was bedeutet dies dann für das Selbstverständnis der
ostasiatischen wie europäischen Kulturen, wenn sich das Heute womöglich
nicht aus den Veränderungsdynamiken des Gestern ableiten lässt?“
Wie das Verhältnis von Vormoderne und Moderne besser beschrieben werden
kann, ist eine der Fragen, an denen die Forschungsgruppe arbeiten wird.
Eine andere ist die nach den Ursachen, die in der Vormoderne in Ostasien
und Europa Veränderungen herbeiführten.
Die Leiter*innen haben dazu 18 Fellows aus der Koreanistik, Japanologie, Sinologie und verschiedene historische Disziplinen ans ZiF eingeladen. Die Forschenden kommen aus sechs Ländern. „Wir hoffen, eine theoretisch fundierte Beschreibung
sozialen Wandels in der Vormoderne ausarbeiten zu können, in der dieser Wandel als Prozess eigenen Rechts erkennbar wird, nicht als Vorstufe zur Moderne“, so Arlinghaus.
Die Forschungsgruppe lädt zu verschiedenen öffentlichen Veranstaltungen
ein. Als erste findet am 10. April und 18.15 Uhr die hochkarätig besetzte
Podiumsdiskussion „… hin zu den Prozessen“ statt.
Die Arbeitssprache der Forschungsgruppe ist Englisch, die öffentlichen
Veranstaltungen finden auf Deutsch statt. Die Leiter*innen stehen für
Medienanfragen gerne zur Verfügung.