"Bei so vielen Verkehrstoten müssen wir Klartext reden"
Das Ziel, die Zahl der Verkehrstoten deutlich zu senken, liegt nach wie
vor in weiter Ferne. Das zeigen die jüngsten Statistiken aus Deutschland,
Österreich und der Schweiz.
Berichtet wird darüber meist sehr distanziert
und formelhaft. Jetzt zeigt ein neuer Leitfaden des Centre for Development
and Environment der Universität Bern, des Instituts für Sprachwissenschaft
der Universität Wien und des Forschungsinstituts für Nachhaltigkeit (RIFS)
wie Sprache dazu beitragen könnte, das Bewusstsein für mehr
Verkehrssicherheit zu erhöhen.
Bern, Potsdam, Wien, 19. März 2025.
2780 Menschen sind im vergangenen Jahr im Straßenverkehr in Deutschland
"ums Leben gekommen" – so hat es das Statistische Bundesamt Ende Februar
2025 mitgeteilt. Ähnlich distanziert berichteten die Medien über die Zahl
von Verkehrstoten. Wenn ein Mensch im Verkehr stirbt, dann beschreibt man
das üblicherweise so: Er erlag seinen Verletzungen, sie zog sich tödliche
Verletzungen zu.
Eine kritische Auseinandersetzung mit Formulierungen dieser Art liefert
der nun veröffentlichte Leitfaden "Unfallsprache – Sprachunfall".
Fachleute aus Linguistik und Sozialwissenschaften des des Centre for
Development and Environment der Universität Bern, des Instituts für
Sprachwissenschaft der Universität Wien und des Forschungsinstituts für
Nachhaltigkeit (RIFS) Potsdam sowie Expertinnen und Experten von Polizei,
Mobilitätsplanung und Medien haben zahlreiche Unfallberichte aus
Deutschland, Österreich und der Schweiz analysiert. Ihr Befund:
Verkehrsunfälle werden meist als schicksalhafte Ereignisse beschrieben.
Und fast immer erscheinen sie als isolierte Einzelereignisse.
„Die Art, wie wir über Unfälle sprechen, prägt unser Verständnis von
Verantwortung und Prävention", sagt Sprachwissenschaftler Hugo Caviola,
der das Projekt geleitet hat. „Polizei und Medien berichten aber oft nur
knapp und formelhaft über Verkehrsunfälle, die dadurch als unvermeidlich
wahrgenommen werden." Der am Leitfaden beteiligte RIFS-Wissenschaftler
Dirk von Schneidemesser ergänzt: „Was nicht erwähnt wird, ist genauso
wichtig wie das, was gesagt wird. Nur etwa fünf Prozent der Unfallberichte
nennen eine Statistik – und ohne diesen Kontext wirken Kollisionen wie
Einzelfälle. Doch bei über 2.500 Toten und insgesamt mehr als 280.000
Verletzten pro Jahr ist klar: Das ist kein Zufall, sondern ein
systemisches Problem. Lösungen gibt es längst – sie müssen nur Priorität
bekommen."
Ein Leitfaden für eine präzisere Sprache
Der Leitfaden richtet sich insbesondere an Polizei und Medien. Er soll
aber auch dazu beitragen, die Verantwortung aller für die
Verkehrssicherheit sprachlich sichtbar zu machen.
Dazu gibt er fünf Empfehlungen:
• Unfälle nicht als Schicksal, sondern als menschengemacht
darstellen. Beispiel: "A und B kollidierten" statt "Es kam zum Unfall."
• Alle beteiligten Personen und deren Handlungen benennen. Beispiel:
"Fußgängerin von Velofahrer angefahren" statt "Fußgängerin angefahren".
• Die Perspektiven der Beteiligten klar kennzeichnen. Beispiel: "Der
Autofahrer erklärte, er habe die Fußgängerin übersehen." statt "Der
Autofahrer übersah die Fußgängerin."
• Den Ermittlungsstand transparent machen. Beispiel: "Wie schnell
die Autofahrerin unterwegs war, ist nicht bekannt." statt "Die
Hintergründe des Unfalls sind Gegenstand der Ermittlungen."
• Einzelereignisse in einen größeren Zusammenhang stellen. Beispiel:
"Das ist die vierte Kollision auf dieser Kreuzung in diesem Jahr."
„Eine präzisere Sprache kann helfen, Verkehrsunfälle als Teil eines
veränderbaren Systems zu begreifen – und nicht als schicksalhafte
Einzelfälle“, so Hugo Caviola. „Denn bei so vielen Verkehrstoten müssen
wir Klartext reden.“
Der Leitfaden liegt in drei Versionen vor: als ausführliches PDF, als
Kurzfassung sowie als Übersichtsblatt – sowohl digital als auch gedruckt.