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Hannover Messe: Neue Klimatechnik für Haus, Auto, Industrie – Wie Drähte und Bleche nachhaltig kühlen und heizen

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Eine neuartige Klimatechnologie kann deutlich energiesparender und
nachhaltiger kühlen und heizen als heutige Verfahren. Die Elastokalorik
braucht keine klimaschädlichen Kältemittel, kein Öl und kein Gas.

Dünne
Drähte und Bleche aus Nickel-Titan transportieren die Wärme, allein, indem
sie verformt werden. Das Forschungsteam der Professoren Stefan Seelecke
und Paul Motzki von der Universität des Saarlandes entwickelt Prototypen
jetzt auch für Fahrzeuge. Binnen fünf Jahren soll das Verfahren bereit
sein für die Praxis. Auf der Hannover Messe demonstriert das Team die
Technologie unter anderem mit dem ersten Kühlschrank-Prototyp vom 31. März
bis 4. April in Halle 2 (Saarland-Stand B10).

Kälte ist laut Physik nichts anderes als abwesende Wärme. Beim Kühlen wird
Wärme abtransportiert, beim Heizen wird sie zugeführt. Und dies machen
Saarbrücker Forscherinnen und Forscher auf besonders einfallsreiche Weise:
Sie nutzen dafür haarfeine Drahtbündel oder dünne Bleche aus der Legierung
Nickel-Titan. Diese werden gezogen und wieder entlastet. Dabei nehmen sie
Wärme auf und geben diese andernorts wieder ab. Aus diesem einfachen
Prinzip entwickelt das Forschungsteam von Stefan Seelecke und Paul Motzki
an der Universität des Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für
Mechatronik und Automatisierungstechnik (Zema) in mehreren
millionenschweren Forschungsprojekten eine neuartige Klimatechnologie.

Die EU-Kommission bezeichnete die Elastokalorik bereits als
zukunftsträchtigste Alternative zu bisherigen Heiz- und Kühlmethoden. Das
Weltwirtschaftsforum listete das Verfahren 2024 in seinen „TOP Ten
Emerging Technologies“. Im Vergleich zu herkömmlichen Methoden, die viel
Energie verbrauchen und mit Treibhausgasen und Kältemitteln Klima wie
Umwelt belasten, ist das neue Verfahren energieeffizienter und so sauber
wie der Strom, mit dem es betrieben wird. Schädliche Kältemittel und
fossile Brennstoffe braucht es nicht. Damit hat die Elastokalorik, zu
deren Pionieren Stefan Seelecke und Paul Motzki zählen, das Potenzial,
künftig weltweit das Energieproblem um ein gutes Stück zu lindern. Der
⁠Endenergieverbrauch⁠ für Wärme und Kälte verursacht in Deutschland laut
Umweltbundesamt gut die Hälfte des gesamten Endenergieverbrauchs. Nach
Angaben der Internationalen Energieagentur IEA entfallen derzeit allein
auf die Raumkühlung zwölf Prozent des gesamten globalen Energiebedarfs.
„Prognosen gehen davon aus, dass sich diese Zahl bis 2050 verdreifachen
könnte“, sagt Zema-Geschäftsführer Paul Motzki, Professor für smarte
Materialsysteme für innovative Produktion der Universität des Saarlandes.

Den Kinderschuhen könnte die Elastokalorik bald entwachsen. Die Forscher
und ihr Team arbeiten daran, die Technologie zügig in die Praxis zu
bringen. Um diesen Weg zu beschleunigen, investiert der Bund für eine
Laufzeit von maximal neun Jahren mehr als 17 Millionen Euro im Projekt
DEPART!Saar, bei dem die Forscherinnen und Forscher mit
Wissenschaftseinrichtungen und Industriepartnern zusammenarbeiten.

Mit der Volkswagen AG, dem Freiburger Fraunhofer-Institut für
Physikalische Messtechnik IPM und der Bochumer Firma Ingpuls entwickelt
das Ingenieurteam die Technologie in einem anderen, soeben gestarteten
Projekt so weiter, dass sie zukünftig mit wenig Energieverbrauch und
Gewicht in den Klimaanlagen von Elektroautos stecken oder deren Batterien
kühlen kann. „In dem mit dreieinhalb Millionen Euro vom Bundesministerium
für Wirtschaft und Klimaschutz geförderten Projekt entstehen derzeit die
ersten Prototypen“, erklärt Paul Motzki.

In einem weiteren neuen Projekt entwickelt das Forschungsteam eine
Elastokalorik-Klimaanlage. Diese soll Wohnhäuser dezentral zimmerweise
über Lüftungsschlitze in den Außenwänden kühlen und heizen. Paul Motzki
und sein Team gewannen 2024 hierfür mit einem europäischen Konsortium eine
prestigeträchtige „EIC Pathfinder Challenge“ des Europäischen
Innovationsrates in Höhe von vier Millionen Euro. Diese wird vergeben für
„visionäre, radikal neue Technologien, die Wandel ins Leben bringen
können, globale Herausforderungen angehen und ganz neue Märkte schaffen“.
Innerhalb der nächsten drei Jahre entsteht in diesem Projekt namens
„SMACool“ der Prototyp der Klimaanlage. Beteiligt sind die Universitäten
Ljubljana und Neapel (Federico II) und das Unternehmen exergyn aus Irland.
„Die Elastokalorik funktioniert zugleich als Kühlanlage und Wärmepumpe.
Ihr Wirkungsgrad beläuft sich bislang auf das Drei- bis Fünffache im
Vergleich zu heutigen Anlagen. Sie wird also deutlich weniger Strom
benötigen“, sagt Paul Motzki, der das Gesamtprojekt leitet.

Beim Kühlen wie beim Heizen erreicht das Forschungsteam bereits
Temperaturdifferenzen von jeweils rund 20 Grad Celsius. „Dies gilt für
einstufige Bauelemente“, präzisiert Paul Motzki, „bauen wir die Systeme
mehrstufig aus, erzielen wir sehr viel größere Temperaturspannen.“ Die
Basis aller Prototypen ist dabei eine außergewöhnliche Eigenart der
Metalllegierung Nickel-Titan: Diese besitzt ein „Formgedächtnis“. Nickel-
Titan hat zwei Kristallgitter, zwei „Phasen“, die ineinander übergehen,
und sich sozusagen aneinander „erinnern“ können. Solche Phasen kennt jeder
von Wasser: fest, also Eis, flüssig und gasförmig. Anders als bei Wasser
sind bei Nickel-Titan jedoch beide Phasen fest. Wandelt sich eine Phase in
die andere um, nehmen die Drähte oder Bleche Wärme auf, wechselt die Phase
erneut, geben sie Wärme ab. Auf diese Weise kann, wenn Luft an ihnen
vorbeiströmt, Räumen Wärme entzogen oder zugeführt werden. „Je nach
Anwendung verwenden wir Drähte, dünne Bleche oder mittlerweile sogar 3D-
gedruckte komplexere Geometrien aus Nickel-Titan“, erläutert Paul Motzki.

Richtig kompliziert wird es, wenn aus dem simplen Prinzip praxistaugliche
Kühl- und Heizverfahren entstehen sollen. Das ist die Spezialität der
Saarbrücker Expertinnen und Experten für smarte Materialsysteme. Sie
konstruieren Prototypen mit cleverer Mechanik so, dass sie in
Kreislaufsystemen funktionieren. Sie erforschen, wie Antriebe Bleche oder
Drähte permanent in Gang halten, um Luft, Wasser oder etwa Wasserglycol
daran vorbeizuleiten. Sie erforschen, wie der beste Kühl- oder Heizeffekt
erzielt wird, wie Luft oder Fluid optimal strömen, welche Form der Bleche
und welche Bündel an Drähten am besten geeignet sind, wie stark diese für
eine bestimmte Kühl- oder Heizleistung belastet und entlastet werden
müssen und vieles mehr. Sie haben eine Software entwickelt, mit der sie
die Heiz- und Kühltechnik für verschiedene Anwendungen anpassen und
Kühlsysteme simulieren und planen können. „Wir wollen das
Innovationspotenzial der Elastokalorik in verschiedensten
Anwendungsgebieten einbringen, etwa auch in der Industriekühlung oder bei
Haushaltsgeräten“, sagt Paul Motzki. Dafür erforscht das Ingenieurteam
zusammen mit auf Materialien spezialisierten Partnern wie der Ingpuls GmbH
den kompletten Kreislauf von Materialherstellung, Produktion bis
Recycling.

Die neue Technologie ist das Ergebnis aus mehr als 15 Jahren Forschung in
mehreren in Millionenhöhe geförderten Forschungsprojekten und in mehrfach
international ausgezeichneten Doktorarbeiten. Ergebnisse sind unter
anderem der weltweit erste Kühl- und Heizdemonstrator und der weltweit
erste Mini-Kühlschrank mit dieser Technologie: Anhand dieses Prototyps
erläutern die Forscherinnen und Forscher auf der diesjährigen Hannover
Messe, wie Elastokalorik kühlt: An jedem Messetag um 10.30 Uhr, 13.30 Uhr
und 16.30 Uhr finden Vorführungen statt.

In diesem ersten Elastokalorik-Kühlschrank sorgt ein patentierter
Nockenantrieb dafür, dass Bündel aus 200 Mikrometer dünnen Nickel-Titan-
Drähten fortwährend um eine runde Kühlkammer rotieren. Während sie im
Kreis wandern, werden sie auf einer Seite belastet, also gezogen, und auf
der anderen entlastet. Luft strömt an den rotierenden Bündeln vorbei in
die Kühlkammer. Dort werden die Drähte entlastet und entziehen der Luft
Wärme. Beim Weiterdrehen transportieren die Drähte diese Wärme aus der
Kühlkammer heraus. Draußen werden sie gezogen und geben die Wärme ab. „In
der Kühlkammer zirkuliert die Luft nur um entlastete Drähte. Damit
erreicht dieser Prototyp etwa 15 Grad Celsius“, sagt Paul Motzki.

Die Technik kommt ohne Sensoren aus. „Sie ist ihr eigener Sensor. Jeder
Messwert des elektrischen Widerstandes entspricht einer bestimmten
Deformation der Drahtbündel oder Bleche. Mit Künstlicher Intelligenz
erkennt das System zu jeder Zeit effizient ihre genaue Position, auch bei
Störeinflüssen“, erläutert der Forscher.

Hintergrund

Formgedächtnistechnologie
Das Forschungsteam für Smarte Materialien an der Universität des
Saarlandes und am Saarbrücker Zentrum für Mechatronik und
Automatisierungstechnik (Zema) wurde von Professor Stefan Seelecke
begründet und gemeinsam mit Professor Paul Motzki in den vergangenen
Jahren intensiv ausgebaut. Das Team nutzt die Formgedächtnis-Technologie
für die verschiedensten Anwendungen vom Robotergreifer bis hin zu Ventilen
und Pumpen. Zahlreiche Doktorandinnen und Doktoranden und sogar auch
bereits Studierende forschen an der Technologie mit. Sie ist Gegenstand
zahlreicher Doktorarbeiten und vieler auch international ausgezeichneter
Veröffentlichungen in Fachzeitschriften. Unter anderem die EU und die
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) fördern beziehungsweise förderten
die Fortschritte der Forschung.

Um die Forschungscommunity auf diesem noch neuen Forschungsgebiet
zusammenzubringen und sie mit Blick auf praktische Umsetzung mit
Unternehmen zu vernetzen, haben die Professoren Stefan Seelecke und Paul
Motzki die internationale Fachgesellschaft „International Elastocaloric
Society“ gegründet, die von Saarbrücken aus aufgebaut wird. Vom 13. bis
15. Mai 2025 wird die zweite internationale Elastokalorik-Konferenz wieder
in Saarbrücken stattfinden, bevor sie ab nächstem Jahr auf Welttour gehen
wird.

Um intelligente Materialsysteme in die Industriepraxis zu bringen, haben
die Wissenschaftler die Firma mateligent GmbH gegründet, die ebenfalls am
Stand auf der Hannover Messe vertreten sein wird.

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