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Wahlleiter, Professor, Optimist

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Politik- und Verwaltungswissenschaftler Professor Dr. Stephan Bröchler von
der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin meistert als
Hochschullehrer und Landeswahlleiter den Spagat zwischen Hörsaal und
Wahlurne – mit Leidenschaft und klarem Kopf. Im Interview erzählt er, wie
er alles unter einen Hut bekommt.



Prof. Bröchler, nach einem Ihrer Seminare antworteten Sie spontan auf die
Frage, wie Sie sich trotz Stressphase als Landeswahlleiter in der Lehre
engagieren können: „Das macht solch eine Freude!“ Was genau begeistert
Sie?

Ich bin begeistert, weil es gelingt Forschung und Lehre miteinander zu
verbinden. Das ist unser Ideal als Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftlicher seit Alexander von Humboldt. Als Politik- und
Verwaltungswissenschaftler erforsche ich modernes Regieren und Verwalten.
Das Thema Wahlorganisation ist ein spannendes Beispiel, um unsere
Studierenden nicht nur für Wahlen zu begeistern, sondern auch zu
vermitteln, wie sich die Wahlorganisation begeistert erforschen lässt. Das
ist gerade auch im Blick auf Abschlussarbeiten von großem Interesse.

Eine anspruchsvolle Doppelrolle – wie stellen Sie sicher, dass beide
Positionen nicht darunter leiden?

Umgekehrt wird ein Schuh daraus. Die Doppelrolle ist ein Gewinn. Denn es
ermöglicht den Wissenstransfer in zwei Richtungen, wie wir ihn als
Hochschule für angewandte Wissenschaften zu Recht anstreben: Zum einen
bringe ich meine wissenschaftliche Herangehensweise und gewonnenen
Forschungserkenntnisse in die praktische Tätigkeit als Landeswahlleiter
ein. Zum anderen lerne ich als Politik- und Verwaltungswissenschaftler
viel über die Arbeitsweise öffentlicher Verwaltungen aus der
Innenperspektive des Regierens und Verwaltens. Erfahrungswissen, das sich
in dieser Form bisher in keinem Lehrbuch findet.

Sie unterrichten zukünftige Verwaltungsexpertinnen und -experten. Welche
Erfahrungen aus Ihrer Arbeit als Wahlleiter fließen in Ihre Lehre ein?

Ich gewinne einen reichen Schatz an Wissen, den ich in meine Lehre und
Forschung einbringe. Drei Erfahrungsbereiche sind für mich besonders
wichtig: Erstens, wie staatliche Steuerung und Koordination in der Praxis
verläuft. Wie lässt sich die Wahlorganisation im Mehrebenensystem aus
Landesebene und Bezirken erfolgreich durchsetzen? Zweitens, die hohe
Bedeutung transparenter öffentlicher Kommunikation für gelingende
Reformen. Wie müssen Reformen kommuniziert werden, um Unterstützung in
Regierung, Parlament und Öffentlichkeit zu organisieren? Drittens, die
Bedeutung des Faktors Zeit für politische Reformen. Wie können Zeitfenster
für Reformprozesse erkannt und genutzt werden?

Gibt es Beispiele aus der Arbeit in oder mit der Verwaltung, die Sie
anführen und Ihren Studierenden sagen: 'So bitte nicht!'?"

In meiner Tätigkeit als Landeswahlleiter vermeide ich besonders zwei „Geht
so gar nicht“-Faktoren. Fehler 1: Reformen mit der Brechstange
durchsetzen. Die Durchsetzung struktureller Reformen erfordert vielmehr
eine Strategie vieler kleiner und mittlerer beharrlicher Schritte, um zum
Ziel zu kommen. Fehler 2: Ohne Wertschätzung kommunizieren. Zum Erfolg
führt demgegenüber auf Augenhöhe wertschätzend zu überzeugen.

Welche Rolle spielt Vertrauen – sowohl in Ihrer Funktion als oberster
Wahlorganisator als auch in der Lehre?

Ohne Vertrauen im Miteinander ist alles nichts. Vertrauen stellt sich
jedoch nicht von selbst ein, sondern muss immer wieder erarbeitet werden.
Vertrauen öffnet und stabilisiert Kommunikation: als Professor wie als
Landeswahleiter. Eine besondere Herausforderung war es nach der Pannenwahl
2021, das verloren gegangene Vertrauen der Berlinerinnen und Berliner
zurückzugewinnen.

Henne oder Ei: Profitieren Sie mehr als Landeswahlleiter von Ihrer
Tätigkeit als Hochschullehrer oder umgekehrt?

Sowohl als auch! Der Gewinn aus meiner Doppelfunktion besteht darin, dass
ich wechselseitig von den Erfahrungen als Landeswahlleiter wie als
Hochschullehrer profitiere. Beide spannende Erfahrungswelten
zusammenzuführen erweisen sich als „Ei des Kolumbus“.

Weshalb ist diese Doppelrolle aus Ihrer Sicht für Sie maßgeschneidert?

Das Amt des unabhängigen und ehrenamtlichen Landeswahlleiters für Berlin
macht mir große Freude, weil es mir ermöglicht, die notwendige Reform der
Wahlorganisation Berlins für die Bürgerinnen und Bürger maßgeblich
mitzugestalten. Als Landeswahlleiter für Berlin bin ich nicht Teil der
Ministerialverwaltung und auch kein Leiter einer Behörde oder eines
Dienstleisters, wie im Bund und in den Ländern häufig üblich. Als
Professor genieße ich durch die Verfassung hohe Unabhängigkeit, die ich in
die ehrenamtliche Tätigkeit des Landeswahlleiters zusätzlich einbringe.
Die Konstruktion stärkt die Unabhängigkeit des Landeswahlleiters für die
Erfüllung der Aufgabe, dauerhaft durch eine neu aufgestellte
Wahlorganisation ordnungsgemäße und faire Wahlen und Abstimmungen zu
planen und zu organisieren.

Beide Berufe sind Teamarbeit, es braucht Rahmenbedingungen, um der
Doppelfunktion gerecht werden zu können. Was und wer hilft Ihnen dabei?

Landeswahlleiter für Berlin ist keine „One-Man-Show“. Für die Erfüllung
meiner vielfältigen Aufgaben ist das Landeswahlamt zentral. Wichtige
Unterstützung erfahre ich zudem durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit
mit der Innensenatorin Iris Spranger und ihrer Senatsverwaltung. Für die
aktive Unterstützung des Regierenden Bürgermeisters Kai Wegner bei der
Schaffung notwendiger fester Stellen in den 12 Bezirkswahlämtern bin ich
besonders dankbar. Unverzichtbar ist zudem die vertrauensvolle
Zusammenarbeit auf Augenhöhe mit den 12 Berliner Bezirken. Hier sind wir
in den letzten beiden Jahren sehr vorangekommen. Last but not least, freue
ich mich sehr über die große Hilfsbereitschaft und Unterstützung bei der
Ausübung meines Ehrenamtes durch die Hochschule für Wirtschaft und Recht
Berlin.

Woher kommt Ihre Begeisterung für das Thema Wahlen?

Als Politik- und Verwaltungswissenschaftlicher liegt das Interesse für
Wahlen in meiner DNA. Als Bürger begeistert mich die republikanische
Regierungsform des Volkes „durch das Volk und für das Volk“, wie es
Abraham Lincoln so treffend ausgedrückt hat.

Sie werden in der Öffentlichkeit als proaktiver Optimist wahrgenommen, der
vorausschauend denkt und vorbereitet ist auf alle Herausforderungen, die
Wahlen so mit sich bringen können – zumal in Berlin. Woher kommt diese
Haltung, wie haben Sie sich das Rüstzeug dafür zugelegt?

Als Reformer muss ich optimistisch sein. Und ich bin durch und durch
Demokrat. Für die Berlinerinnen und Berliner eine professionelle
Wahlorganisation zu erreichen, motiviert mich sehr. Denn eine gute
Wahlorganisation ist der Anker der Demokratie. Ohne ordnungsgemäße Wahlen
gibt es keine funktionierende Demokratie. Zur Zuversicht gehört auch
kritische Reflexion und die Bereitschaft, dicke Bretter zu bohren. Hier
bin ich dann wieder Politik- und Verwaltungswissenschaftler.

Als Mitglied der Expertenkommission zur Aufklärung der Wahlpannen 2021
haben Sie Einblicke in die Schwachstellen des Systems gewonnen. Gibt es
Momente, in denen Sie nun denken: 'Hätte ich das damals gewusst, hätte ich
andere Empfehlungen gegeben'?"

Nein, zu keinem Zeitpunkt. Die Handlungsempfehlungen der
Expertenkommission „Wahlen in Berlin“ sind richtungsweisend für die Reform
der Berliner Wahlorganisation.

Als Vertrauensdozent der Friedrich-Ebert-Stiftung denken Sie über die
Zukunft der Parteiendemokratie nach. Welche Änderungen am Berliner
Wahlsystem würden Sie begrüßen?

Mögliche Reformbedarfe sehe ich in drei Bereichen:  Ich plädiere für die
Vereinheitlichung der Fristen für Neuwahlen in Berlin. Löst sich das
Abgeordnetenhaus nach Beschluss selbst auf, muss laut Berliner Verfassung
innerhalb von nur acht Wochen die Neuwahl stattfinden. Im Fall der
Wiederholungwahl muss unser Parlament in einer Frist von 90 Tagen
teilweise oder vollständig neu gewählt werden. Die Verfassung Berlins
sollte so geändert werden, dass die Frist für Neuwahlen einheitlich 90
Tage beträgt, um der Komplexität der Wahlvorbereitung gerecht zu werden.

Laut Verfassung Berlins müssen Wahlen zum Abgeordnetenhaus in allgemeiner,
gleicher, geheimer und freier Wahl stattfinden. Im Rahmen einer
Verfassungsänderung sollte der Katalog der Wahlgrundsätze von vier auf
sechs Anforderungen erweitert werden. Aus dem Grundgesetz sollte das
Kriterium der freien Wahl in die Verfassung übernommen werden. Hinzugefügt
sollte zudem die Anforderung der Öffentlichkeit als sechstes Kriterium,
wie sie das Bundesverfassungsgericht hergeleitet hat.

Derzeit werden in Berlin die Stimmenergebnisse bei Wahlen zum
Abgeordnetenhaus nach dem Hare-Niemeyer-Verfahren in Mandate umgerechnet.
Es sollte nachgedacht werden, ob wir – wie bereits jetzt bei Europa- und
Bundestagswahlen und bei Landtagswahlen – in einer Reihe von Bundesländern
künftig die Sitze bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin nach dem
Verfahren von Sainte-Laguë/Schepers verteilen, um die Chancengerechtigkeit
kleinerer Parteien zu verbessern und die Repräsentativität von Wahlen zu
erhöhen.

Sie plädieren öffentlich fürs Abstimmen im Wahllokal, forschen
gleichzeitig Verwaltungsdigitalisierung. Wie stehen Sie zu digitalen
Wahlen?

Digitale Wahlen werden kommen: im Bund und in den Ländern. Wenn ich das
Thema in meinen Lehrveranstaltungen anspreche, dann spüre ich die Ungeduld
der Studentinnen und Studenten, wann E-Voting endlich ermöglicht wird.
Hier gilt für mich ganz besonders die Maxime: Wer vordenkt, muss
nachgedacht haben. Denn klar muss sein, dass digitale Wahlen sehr sicher
gestaltet sein müssen, um Wahlfälschungen zu verhindern. Als
Landeswahlleiter werde ich mich in den kommenden Jahren mit den Chancen
und Risiken befassen. Beispielsweise in meinem Podcast „Wir haben die
Wahl“.

Ihr wichtigster Tipp in Sachen Zeitmanagement und Priorisierung für
Menschen, die gleichzeitig auf mehreren Hochzeiten tanzen?

Zeitmanagement ist für mich ein wichtiges Thema, um die Aufgaben als
Landeswahlleiter und als Professor gut auszubalancieren. Eine große Hilfe
für mich ist, sich darüber klar zu werden, was wirklich unmittelbar
erledigt werden muss, was dringend ist und was delegiert werden kann.
Nicht zu unterschätzen im Zeitmanagement ist es, abzuschalten. Für mich
ist der schönste Weg um nach der Arbeit zu entspannen, wann immer es
möglich ist, abends gemeinsam mit meiner Frau zu kochen und sich zumindest
auf einen arbeitsfreien Tag am Wochenende zu freuen.

Herr Prof. Bröchler, ich danke Ihnen für das Gespräch.

Das Interview führte Sylke Schumann, Pressesprecherin der Hochschule für
Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin).

Zur Person

Dr. Stephan Bröchler ist Professor für Politik- und
Verwaltungswissenschaften an der Hochschule für Wirtschaft und Recht
Berlin (HWR Berlin). Seine Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der
vergleichenden Regierungslehre und bei der Untersuchung des
Regierungssystems der Bundesrepublik Deutschland. Stephan Bröchler war
Mitglied der Expertenkommission „Wahlen in Berlin“ zur Aufarbeitung der
Pannenwahl im September 2021. Ein Jahr später wurde er als Landeswahleiter
eingesetzt. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift Leviathan – Berliner
Zeitschrift für Sozialwissenschaft und Länderexperte für Deutschland des
internationalen Forschungsnetzwerks Varieties of Democracy.

Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin

Die Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR Berlin) ist eine
fachlich breit aufgestellte, international ausgerichtete Hochschule für
angewandte Wissenschaften, einer der bundesweit größten staatlichen
Anbieter für das duale Studium und im akademischen Weiterbildungsbereich.
Sie sichert den Fachkräftebedarf in der Hauptstadtregion und darüber
hinaus. Rund 12 500 Studierende sind in über 60 Studiengängen der
Wirtschafts-, Verwaltungs-, Rechts-, Ingenieur- und Polizei- und
Sicherheitswissenschaften sowie in internationalen Master- und MBA-
Studiengängen eingeschrieben. Die HWR Berlin ist die viertgrößte
Hochschule für den öffentlichen Dienst in Deutschland und mehrfach
prämierte Gründungshochschule. Über 700 Kooperationen mit Partnern in der
Wirtschaft und im öffentlichen Dienst garantieren den ausgeprägten
Praxisbezug in Lehre und Forschung. 195 aktive Partnerschaften mit
Universitäten auf allen Kontinenten fördern einen regen
Studierendenaustausch und die internationale Forschungszusammenarbeit. Die
HWR Berlin ist Mitglied im Hochschulverbund „UAS7 – Alliance for
Excellence“ und unterstützt die Initiative der Hochschulrektorenkonferenz
„Weltoffene Hochschulen – Gegen Fremdenfeindlichkeit“.

http://www.hwr-berlin.de

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