Wie werden Norddeutschlands Küsten resilienter?
5 Fragen an Dr. Insa Meinke zur Nordseeküste im Klimawandel
Der Meeresspiegel der Nordsee steigt, Sturmfluten nehmen zu, im Winter
regnet es häufiger und heftiger.
Das Wasser kommt von überall und bedroht
die Küstenregionen Norddeutschlands. Deiche allein reichen hier nicht aus,
um den Folgen des Klimawandels langfristig standzuhalten. Die
Wissenschaftlerin Insa Meinke vom Helmholtz-Zentrum Hereon plädiert für
neue, nachhaltige Maßnahmen für eine resiliente Küstenentwicklung. Wo
diese ansetzten können, zeigt die neue Filmproduktion vom Norddeutschen
Küsten- und Klimabüro des Hereon „Nordseeküste im Klimawandel”.
Frau Meinke, wie ist Norddeutschland vom Klimawandel betroffen?
Der Klimawandel trifft in Norddeutschland auf eine Region, die sich schon
sehr lange vor dem Wasser schützt. Die Anpassung an den Klimawandel wird
aber technisch immer aufwändiger und teurer. Was oft nicht bekannt ist:
Küstenschutz und Binnenentwässerung hängen zusammen und sind gleichermaßen
betroffen. Das Wasser kommt bei uns von allen Seiten und wegen des
Klimawandels gibt es hier Handlungsbedarf. Deshalb haben wir vom
Norddeutschen Küsten- und Klimabüro am Helmholtz-Zentrum Hereon zwei neue
Filme veröffentlicht. Unter den Titeln „Nordseeküste im Klimawandel“ und
„Perspektiven aus der Wissenschaft“ verdeutlichen sie planungsrelevante
Zusammenhänge von Küstenschutz, Binnenentwässerung und Raumplanung an der
deutschen Nordseeküste in einem sich ändernden Klima. Die Filme dienen als
Basis für notwendige Abstimmungsprozesse in der norddeutschen
Öffentlichkeit. Denn um unsere Nordseeküste langfristig bewohnbar zu
halten, müssen wir schon heute zusätzlich langfristig wirksame Maßnahmen
der Küstenentwicklung in die Wege leiten.
Haben Sie aussagekräftige Daten zum Klimawandel in Norddeutschland
analysiert?
Ja, seit etwa 20 Jahren werten wir Klima- und Wasserstandsdaten für
Norddeutschland aus. Dabei haben sich wesentliche Erkenntnisse bezüglich
langfristiger Änderungen immer wieder bestätigt und weiter verfestigt:
Neben der langfristigen Erwärmung hat auch der Winterniederschlag
zugenommen. Außerdem ist an der Nordseeküste auch der Meeresspiegelanstieg
messbar und liegt bei etwa 20 Zentimetern innerhalb der letzten 100 Jahre.
Somit laufen nicht nur Sturmfluten höher auf, sondern auch die
Entwässerungszeiten verkürzen sich. Die Klimadaten zeigen eine sich
fortsetzende Niederschlagszunahme in den Wintermonaten, die bis Ende des
Jahrhunderts in Norddeutschland bei rund 40 Prozent liegen kann. Alle
Klimaszenarien zeigen außerdem, dass der Meeresspiegel weiter ansteigen
wird. Bei weiterhin hohen Treibhausgasemissionen ist bis 2100 in der
Deutschen Bucht mit einem Meeresspiegelanstieg von 1,20 Meter zu rechnen.
Zusammenfassend zeichnet sich ab, dass der Entwässerungsbedarf steigt,
während sich die Entwässerungszeiten verkürzen. Ein Ende dieser
Entwicklung ist nicht absehbar. Dies verdeutlicht den Handlungsbedarf,
neben dem Ausbau bisheriger Schutzmaßnahmen neue Ansätze für eine
nachhaltige Küstenentwicklung in die Wege zu leiten.
Welche Bedeutung haben Sturmfluten dabei?
Sturmfluten gehören in Norddeutschland seit jeher zum Winterhalbjahr. Wenn
es draußen stürmt und wir im Radio Sturmflutwarnungen hören, fühlen wir
uns durch die Deiche sicher. Nach der verheerenden Nordseesturmflut am 16.
und 17. Februar 1962 wurde der Küstenschutz an der gesamten Nordseeküste
stark ertüchtigt. Doch durch den Klimawandel erhöhen sich nicht nur
Sturmfluten, sondern auch der Winterniederschlag. Welche Folgen sich
daraus ergeben können, hat das Binnenhochwasser in Niedersachsen im
vergangenen Winter 2023/24 gezeigt: Wochenlanger, starker Regen traf auf
eine aktive Sturmflut-Saison, sodass die Entwässerung an ihre technischen
Grenzen stieß. Weite Teile Nord-Niedersachsens standen unter Wasser. Dies
verdeutlicht, dass die verschiedenen Problembereiche verknüpft werden
müssen, damit Lösungsansätze für eine langfristig bewohnbare Küste
gefunden werden.
Könnten solche Überschwemmungen künftig häufiger auftreten?
Ja, solche ungünstigen Konstellationen mit erhöhtem Binnenhochwasserrisiko
können gerade durch den Klimawandel häufiger und intensiver auftreten.
Denn durch die Winterniederschlagszunahme erhöht sich der
Entwässerungsbedarf, doch gleichzeitig wird durch den Meeresspiegelanstieg
die Entwässerung der eingedeichten Gebiete erschwert. Zudem können hohe
Sturmfluten wie die am 16./17. Februar 1962 bei weiterhin hohen
Treibhausgasemissionen Ende des Jahrhunderts statistisch alle 5 bis 10
Jahre auftreten und Küstenschutzbauwerke somit stärker belasten. Da der
Meeresspiegel noch über viele Jahrhunderte weiter ansteigen wird, müssen
wir neben dem Ausbau von Küstenschutz und Binnenentwässerung schon jetzt
wirksame Maßnahmen in die Wege leiten.
Was raten Sie Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern aus
Politik, Behörden und Küstenschutz?
Es gilt mehr denn je, natürliche Prozesse wieder besser zu nutzen,
beispielsweise sollte es Möglichkeiten geben, die Deiche teilweise zu
öffnen und die Gebiete dahinter kontrolliert zu fluten, damit sich
Sedimente absetzen und Gebiete so wieder aufwachsen können. Aber auch
Bebauung und Infrastrukturen sollten an das Wasser angepasst und neue
Nutzungskonzepte entwickelt werden. Nachhaltige Küstenentwicklung ist aber
nicht nur eine technische Aufgabe, sondern auch ein gesellschaftlicher
Prozess. Er erfordert die Verknüpfung verschiedener Politik- und
Planungsbereiche unter Berücksichtigung unterschiedlicher Interessen.
Unsere Filme dienen als wissenschaftliche Basis für den hierzu nötigen
Abstimmungsprozess in der Gesellschaft. Der erste Film „Nordseeküste im
Klimawandel“ erklärt die wesentlichen Zusammenhänge des komplexen
Wirkungsgefüges der Nordseeküste im Klimawandel. Im zweiten Film
„Perspektiven aus der Wissenschaft“ geben 5 Wissenschaftlerinnen und
Wissenschaftler Hintergrundinformationen zu den Filminhalten aus ihren
Forschungsbereichen.
Kurz-Vita
Dr. Insa Meinke leitet seit 2007 das Norddeutsche Küsten- & Klimabüro am
Institut für Küstensysteme – Analyse und Modellierung des Helmholtz-
Zentrums Hereon. Ihr geowissenschaftliches Studium an den Universitäten
Marburg und Gießen schloss sie zuvor mit einer Diplomarbeit über
Ostseesturmfluten ab. Danach promovierte sie im Fach Meteorologie am
Fachbereich Geowissenschaften der Universität Hamburg und arbeitete
anschließend als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Scripps Institution of
Oceanography der UC San Diego.
Hintergrund
Das Norddeutsche Küsten- und Klimabüro am Helmholtz-Zentrum Hereon macht
Ergebnisse aus der Küsten- und Klimaforschung für Norddeutschland
verfügbar und für die Praxis anwendbar. Es dient der norddeutschen
Öffentlichkeit als Kontaktstelle und bietet unter anderem
Überblicksvorträge, individuelle Beratungen sowie verständliche,
entscheidungsrelevante Informationen. Ziel ist es, ein Verständnis der
Küstensysteme im Wandel zu vermitteln und die Öffentlichkeit für die
Chancen und Risiken des (Klima-)Wandels zu sensibilisieren. Zu den
etablierten Formaten für die Interaktion mit Entscheiderinnen und
Entscheidern und der Öffentlichkeit gehören regionale Assessment-Berichte,
Monitoring-Webtools zu Meeresspiegelanstieg und Sturmfluten oder auch
schriftliche Zusammenfassungen komplexer Zusammenhänge.