Unsicherheit als Innovationsmotor verstehen“
Center for Uncertainty Studies (CeUS) etabliert neuen Forschungsansatz
Die Invasion Russlands in der Ukraine, Debatten um Migration und die
Folgen der Pandemie zeigen, wie schnell sich vermeintliche Sicherheiten
auflösen können.
Diese Orientierungslosigkeit nutzen rechtspopulistische
Parteien geschickt aus. Wie wir mit solchen allgegenwärtigen
Unsicherheiten umgehen und sie navigieren, erforscht das Center for
Uncertainty Studies (CeUS) an der Universität Bielefeld. Seit seiner
Gründung im Dezember 2022 baut es ein neues Fachgebiet auf: die inter- und
transdisziplinäre Unsicherheitsforschung. Nun ziehen die drei
Gründungsdirektor*innen eine erste Bilanz der bisherigen Arbeit des CeUS.
„Unsicherheit wird oft sehr negativ gesehen. Es geht oft darum,
Unsicherheit zu vermeiden, zu reduzieren, mindestens zu kontrollieren oder
gar aus der Welt zu schaffen“, sagt die Historikerin Professorin Dr. Silke
Schwandt, eine der drei CeUS-Gründungsdirektor*innen. Das Zentrum verfolgt
einen neuen Ansatz: „Wir argumentieren, dass Unsicherheit positiv auf die
Gesellschaft wirken kann. Wir möchten verstehen, wie gesellschaftliche
Akteur*innen durch Unsicherheit navigieren – vergleichbar mit
Entdecker*innen auf unbekanntem Terrain – und durch ihr
Entscheidungsverhalten konstruktive Veränderungen in der Gesellschaft
anstoßen können.“
Wirtschaftliche Innovation durch Unsicherheit beschleunigt
Wirtschaftswissenschaftler Professor Dr. Herbert Dawid, ebenfalls
Gründungsdirektor, betont die wirtschaftlichen Aspekte: „In unseren
Studien haben wir festgestellt, dass Unsicherheit tatsächlich Innovation
und technischen Fortschritt beschleunigen kann. Ein Beispiel dafür ist die
Energiewende, wo die Unsicherheit darüber, welche Technologie sich in
Zukunft durchsetzen wird Forschungsanstrengungen und technologischen
Fortschritt in verschiedenen Bereichen motiviert“, so Dawid.
Wie Verunsicherung zur Lösungsfindung anregt
Der Sozialforscher Professor Dr. Andreas Zick stellt fest, dass Studien
eine zunehmende Verunsicherung in der Gesellschaft zeigen. Zick ist der
dritte CeUS-Gründungsdirektor. „Die meisten Erhebungen bleiben die Antwort
schuldig, wie Menschen auf die wahrgenommene Unsicherheit reagieren“, so
Zick. „Wir untersuchen, welche Strategien sie in unsicheren Situationen
anwenden und wie sie Entscheidungen treffen. Indem wir Unsicherheit als
Innovationsmotor verstehen, können wir erklären, wie Ungewissheit Menschen
dazu motiviert, eigenständig kompetente Lösungen zu suchen.“
Interdisziplinäre Konferenz
Um die Unsicherheitsforschung voranzutreiben, setzt das CeUS seit seiner
Gründung darauf, Forschende fächerübergreifend zu vernetzen. „Keine
einzelne Disziplin kann die Probleme und Herausforderungen der
Unsicherheit lösen“, sagt Silke Schwandt. Etwa 30 Forschende aus
Disziplinen wie Soziologie, Geschichtswissenschaft und
Wirtschaftswissenschaften diskutierten Mitte 2023 im Zentrum für
interdisziplinäre Forschung (ZiF) der Universität über das neue
Forschungsfeld. Dort veranstaltete das CeUS die Konferenz „Navigating
Uncertainty: Preparing Society for the Future” (Die Ungewissheit
navigieren: Die Gesellschaft auf die Zukunft vorbereitet). In den beiden
Keynotes thematisierten Professorin Dr. Miriam Posner und Professor Dr.
Carlo Jaeger die Rolle von Daten in den Geisteswissenschaften und
Unsicherheiten im Anthropozän.
Überdies hat das CeUS eigene Veranstaltungsformate entwickelt, um
Forschende in den Austausch zu bringen – die Uncertainty Lunches und den
Research Afternoon. „In der Anfangsphase haben wir die Grundlagen für die
interdisziplinäre Unsicherheitsforschung geschaffen“, bilanziert Silke
Schwandt. „Die Resonanz aus der wissenschaftlichen Community zeigt uns,
dass wir auf dem richtigen Weg sind.“ Nicht nur an Forschende, sondern
auch an die Öffentlichkeit wendet sich die Reihe der Uncertainty-Talks.
Die Themen der bisher neun öffentlichen Vorträge reichen von der
sprachlichen Analyse von Unsicherheit bis hin zu psychologischen Theorien
über Entscheidungsfindung unter unsicheren Bedingungen.
CeUS vernetzt zwischen Forschungsverbünden
„Unser Ansatz, Unsicherheit als produktiv zu begreifen und systematisch zu
untersuchen, welche Auswirkungen unterschiedliche Arten des Umgangs mit
Unsicherheit haben, hat in kurzer Zeit viele Forschende angezogen und
inspiriert“, berichtet Co-Gründungsdirektor Herbert Dawid. Mehr als 50
Wissenschaftler*innen und ein Dutzend Forschungsprojekte sind inzwischen
mit dem CeUS verbunden. Die neue internationale Max-Planck-
Forschungsschule, IMPRS-ModA, beispielsweise analysiert Unsicherheiten im
Kontext globaler Veränderungen. Die Wissenschaftler*innen erforschen das
vom Menschen geprägte Erdzeitalter und analysieren, wie Mensch und Umwelt
komplex und oft unvorhersehbar interagieren. Mit dem CeUS assoziiert ist
auch der mathematisch ausgerichtete Sonderforschungsbereich 1283
„Unsicherheit beherrschen und Zufall sowie Unordnung nutzen in Analysis,
Stochastik und deren Anwendungen“. Und im Transregio-
Sonderforschungsbereich 318 „Erklärbarkeit konstruieren“ arbeiten
Wissenschaftler*innen daran, die oft undurchsichtige Funktionsweise von
KI-Systemen transparenter zu gestalten.
Weitere Beispiele für mit dem CeUS verbundene Projekte:
- PREDICT: Erfasst Auswirkungen von Algorithmen auf gesellschaftliche
Unsicherheiten, gefördert vom Europäischen Forschungsrat (ERC).
- WaterFutures: Untersucht zukünftige städtische Wasserversorgung unter
Berücksichtigung von Unsicherheiten wie dem Klimawandel, gefördert vom
ERC.
- Graduiertenkolleg CUDE (RTG 2865): Analysiert die Bewältigung von
Ungewissheit in dynamischen Wirtschaftssystemen, gefördert von der
Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG).
- Forschungsnetzwerk EPOC: Erforscht unsichere wirtschaftspolitische
Entscheidungen, EU-gefördert als Marie Skłodowska-Curie Innovative
Training Network.
CeUS plant Ausbau internationaler Vernetzung
Für die Zukunft plant das CeUS, seine Rolle als lebendiger Knotenpunkt für
den akademischen Austausch in der Unisicherheitsforschung zu festigen. Co-
Gründungsdirektorin Silke Schwandt betont: „Wir möchten Ideen für neue
interdisziplinäre Projekte entwickeln, um zu die vielen Facetten zu
erforschen, wie Unsicherheit Wissenschaft und Gesellschaft beeinflusst.“
Das Young Scholar Network (Netzwerk für junge Wissenschaftler*innen) des
CeUS soll zusätzlich dazu beitragen, die Bielefelder
Unsicherheitsforschung international sichtbarer zu machen, indem es
Wissenschaftler*innen aus aller Welt zusammenbringt.