Religionssoziologe: Antisemitismus ist "hochgradig gegenwärtiges Problem"
Antisemitismus ist nach Ansicht des Religionssoziologen Prof. Dr. Gert
Pickel von der Universität Leipzig schon lange eine gesellschaftliche
Normalität. Jüdinnen und Juden würden immer wieder zum "geeigneten
Sündenbock oder Feindbild" gemacht.
Anlässlich des Internationalen
Gedenktags an die Opfer des Holocaust am 27. Januar spricht der
stellvertretender Sprecher des Kompetenzzentrums für Rechtsextremismus und
Demokratieforschung (KReDo) und Antisemitismusbeauftragte der Universität
unter anderem auch über die Belastungen für jüdische Studierende und
Mitarbeitende an deutschen Hochschulen wie der Universität Leipzig.
Ist Antisemitismus Ihrer Einschätzung nach schon zur gesellschaftlichen
Normalität geworden? Verschiebt sich da aktuell etwas?
In der Antisemitismusforschung gehen wir davon aus, dass Antisemitismus
schon lange Normalität und faktisch immer in der Gesellschaft präsent ist.
Shulamit Volkov beschreibt ihn als wandelbaren kulturellen Code, der immer
wieder in neuen Formen auftaucht. In Deutschland haben nicht wenige
Antisemitismus zu lange auf den Nationalsozialismus und den Holocaust
beschränkt und in gewisser Hinsicht historisiert. Aber es ist eben ein
hochgradig gegenwärtiges Problem. Die aktuelle Entwicklung zeigt die
Vielfalt der Gruppen, die für Antisemitismus anfällig sind. Sie werden
aktuell sichtbar. Was nicht heißen soll, dass sie davor nicht schon da
waren.
Worin sehen Sie die Ursachen für diese Entwicklung?
Jüd:innen erweisen sich immer wieder als geeigneter Sündenbock oder
Feindbild. So tauchen Zuschreibungen der Macht verbunden mit
antijudaistischen Kindermordvorwürfen auf. Antisemitismus ist also immer
wieder aktualisierbar. Überhaupt spielen Verschwörungserzählungen im
Antisemitismus eine große Rolle. Für die gegenwärtigen Debatten ist
zweifelsohne der Krieg zwischen Israel und der Hamas ein wichtiger Faktor.
Er hat eine belebende Wirkung auf antiisraelische Positionen, in denen
sich nicht immer, aber immer wieder auch antisemitische Erzählungen
mischen. Diese Auswirkungen von gewalttätigen Auseinandersetzungen in
Israel wirken nicht zum ersten Mal, aber vielleicht am bislang stärksten
mobilisierend für Antisemitismus in Deutschland.
Wie sieht es diesbezüglich aktuell auf dem Campus der Universität Leipzig
und anderer deutscher Hochschulen aus?
Derzeit haben wir an fast allen deutschen Hochschulen pro-palästinensiche
Proteste. Sie sind gegenüber dem letzten Semester etwas schwächer
geworden, nehmen aber nun auch andere Wege gegenüber den noch davor
genutzten Formen von Besetzungen von Hochschulräumen und Pro-Palästina-
Camps. Dies ändert allerdings leider sehr wenig an der Belastung für
jüdische Studierende und Mitarbeitende, auch in Leipzig. Sie machen
Erfahrungen der Ausgrenzung, öffentlicher Bloßstellung, aber ihnen kommt
auch die Möglichkeit des unbeschwerten Bewegens auf dem Campus und in der
Stadt abhanden.
Gibt es Zusammenhänge mit dem Nahostkrieg und dem beschlossenen
Waffenstillstand?
Bislang scheint sich dieser noch nicht auszuwirken, zu fragil ist auch die
Situation in Israel und im Gaza-Streifen. Ich denke, erst wenn sich die
Situation dauerhaft entspannt, dürfte auch in Deutschland die Motivation
zur Positionierung – und damit auch antisemitische Äußerungen –
nachlassen. Das bedeutet aber nicht, dass die Einstellungen verschwinden.
Es wäre falsch zu denken, dann erledigt sich der Kampf gegen
Antisemitismus. Vielmehr ist es notwendig, den Weg zu strukturellen
Maßnahmen zu gehen, die dauerhaft Antisemitismus entgegenwirken. Da wären
zum Beispiel die Verankerung von Antisemitismusbildung oder auch der
Beschäftigung mit dem gegenwärtigen jüdischen Leben in Deutschland in
verschiedenen Curricula und in der Lehrerausbildung wichtige Schritte.
Hier gibt es auch bereits erste Initiativen. Nur eine langfristig
angelegte und kontinuierliche Antisemitismusbildung kann wirklich
Antisemitismus entgegenwirken.