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Julia Wege im Interview über ihre Arbeit für die Krimifilmreihe "Polizeiruf 110"

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2024 übernahm Julia Wege die Aufgabe der Fachberatung in Bezug auf das
Rotlichtmilieu bei der Produktion einer Folge der Krimifilmreihe
"Polizeiruf 110".

Im Interview berichtet die RWU Professorin für soziale
Arbeit ausführlich über ihre Arbeit in diesem Zusammenhang und den Status
Quo hinsichtlich Prostitution in Deutschland.

Julia Wege ist seit 2021 Professorin an der Fakultät Soziale Arbeit,
Gesundheit und Pflege der RWU. 2024 übernahm sie die Aufgabe der
Fachberatung in Bezug auf das Rotlichtmilieu bei der Produktion einer
Folge der Krimifilmreihe "Polizeiruf 110".

Alec Weber: Wie kamen Sie dazu an der Produktion einer Folge „Polizeiruf
110“ mitzuwirken und was haben Sie dort konkret gemacht?

Professorin Dr. Julia Wege: Florian Oeller, der unter anderem Drehbücher
für den Tatort und den Polizeiruf 110 schreibt, hat mich kontaktiert, weil
er über das Thema Prostitution recherchierte und dabei auf meine
Doktorarbeit gestoßen ist. Für diese hatte ich mit Frauen in der
Prostitution Interviews geführt. Er hat mich gefragt, ob wir uns
telefonisch austauschen könnten, daraus wurde ein Telefonat von zwei
Stunden. Im Nachgang hat er mir den Rohentwurf seines Drehbuchs geschickt.
Hier konnte ich ihm dann Hinweise und Korrekturen geben, wie es im
Rotlichtmilieu abläuft.

Wie muss man sich das konkret vorstellen?

Ich habe einzelne Stellen im Drehbuch kommentiert und alle Anmerkungen
auch mit Quellen, Studien, Zahlen belegt. Damit konnte ich dem Autor den
Rücken stärken, weil vieles nicht geglaubt wird, hinsichtlich der
Hintergründe im Rotlichtmilieu. Florian Oeller hat mich dann beim NDR
vorgeschlagen, ob ich die Fachberatung zu dem Thema Rotlicht übernehmen
könne. Im Anschluss erhielt ich den offiziellen Auftrag als
Ansprechpartnerin für die Regisseurin, die Produzentin und auch für die
Schauspieler*innen zu fungieren. Meine Hauptaufgabe bestand darin, eine
fachliche Stellungnahme zu dem Drehbuch zu schreiben. Ich musste alle
Szenen bewerten, im Hinblick auf Redewendungen und inhaltliche Details.
Ist es stimmig? Ist es zu übertrieben? Ist es realistisch? Wie sind die
Aussagen unter den Frauen? Ich habe die Arbeit der Produktion fast zwei
Jahre lang seit 2022 unterstützt. Der Abschluss war der Dreh in Hamburg.

Um was für fachliche Details ging es zum Beispiel bei ihrer Arbeit als
Beraterin?

Es ging darum zu überprüfen, ob zum Beispiel die Inhalte der Dialoge oder
die Zusammenhänge in Bezug auf die Handlungsstruktur realistisch
erscheinen.  Ich habe auch oft mit der Kripo oder dem LKA Rücksprache
gehalten. Zum Beispiel sind viele der Frauen von ihrem Zuhälter gebrandet.
Das heißt, sie haben ein Tattoo und man erkennt, zu welchem Zuhälter die
Frauen gehören. Das funktioniert wie ein Etikett, wodurch der Mensch zur
Ware wird. Ich musste dann nochmal Rücksprache mit dem LKA halten, ob es
zum Beispiel eine Art Tattoo-Register gibt.

Was war ihr Highlight am Set beziehungsweise während des Drehs?

Das Highlight am Set waren die Gespräche mit den beiden Schauspielerinnen
Anneke Kim Sarnau und Lina Beckmann, die die Kommissarinnen Katrin König
und Melly Böwe spielen. Sie haben erzählt, wie sie sich auf das Thema
vorbereitet haben. Sie fanden es bewegend und dramatisch, sich diesem
Tabuthema zu nähern. Und sie waren auch echt verärgert, weil die
politischen Akteur*innen und Gesellschaft viel stärker Stellung zur
Thematik beziehen müsste. Es freut mich und ich bin auch stolz drauf, dass
ich angefragt wurde, mit meiner fachlichen Expertise an der Folge
mitzuarbeiten.

Können Sie sich also vorstellen, auch in Zukunft so oder in ähnlicher
Funktion an Film- und Fernsehproduktionen mitzuwirken?

Meines Erachtens ist es wichtig, sich zu gesellschaftlichen Themen auch in
den Medien zu äußern und Stellung zu beziehen. In den letzten Jahren hatte
ich viele Medienanfragen, insgesamt waren es über 350, auch von
internationalen Medien: Aus New York kam zum Beispiel der Sender HBO nach
Mannheim, wo ich die Beratungsstelle für Frauen in der Prostitution Amalie
gegründet hatte. Aber das Thema ist sensibel, die Lebenssituationen der
Frauen sehr prekär und ich wollte bei meiner damaligen Arbeit nicht jeden
Tag von Kamerateams begleitet werden. Es geht darum, die Frauen zu
schützen. Dennoch habe ich mir die Zeit genommen, an Dokumentationen
mitzuwirken, wie zum Beispiel für ARTE oder das ZDF. Ich prüfe die
Anfragen aber immer sehr genau, von wem wird das Ganze produziert und was
das Ziel ist. Da gibt es große Unterschiede, ich möchte nicht an
unseriösen Formaten mitwirken.

Wie wird denn politisch und gesellschaftlich mit dem Thema umgegangen?

Es gibt ein politisches Lager, das Prostitution als Arbeit versteht. Nach
meiner Erfahrung und den Erkenntnissen von Polizeibehörden, ist die Anzahl
der Frauen, die tatsächlich selbst bestimmt und freiwillig in dem Bereich
arbeiten, relativ gering. Der Anteil der Frauen, die gezwungen werden und
Opfer von unterschiedlichen Straftaten sind, ist relativ hoch. Diese
werden aber kaum gesehen und stehen nicht im Fokus der öffentlichen
Wahrnehmung. Diese Frauen sind teilweise dringend auf Hilfe angewiesen und
die Beratungslandschaft ist sehr defizitär. Der Staat hat hier eine
ambivalente Haltung, denn die Steuern im Prostitutionsgewerbe sind sehr
hoch.

Welche politischen Schritte würden Sie sich konkret wünschen?

Ich bin schockiert, wie wenig Kenntnisse viele Politiker*innen über diesen
Bereich haben. Ganz allgemein kommt mir das Thema Frauenrechte nach wie
vor zu kurz. Das sieht man zum Beispiel beim Blick auf die Finanzierung
der Frauenhäuser. Die Sexualstraftaten gegenüber Frauen sind seit 2019 um
rund 28 Prozent gestiegen, dies zeigt das BKA Lagebild. Es geht um
häusliche Gewalt, Belästigung, Vergewaltigung. Ich wünsche mir ein
politisches Umdenken, dass die Situation für die Frauen allgemein
verbessert werden und dass Prostitution rechtlich im Sinne des nordischen
Modells behandelt wird. "Nordisches Modell" bedeutet, dass der Kauf von
sexueller Dienstleistung verboten ist, aber die Frauen es anbieten dürfen.
Das heißt, die Frauen werden nicht kriminalisiert, sondern die Freier.
Schweden hat es bereits 1999 eingeführt, seither auch Irland, Norwegen,
Israel, Frankreich, und die Länder haben damit bisher positive Erfahrungen
gemacht. Der wichtigste Aspekt ist, dass es ein gesellschaftliches
Umdenken gibt und es ein absolutes Tabu ist, dass sich Männer den Körper
einer Frau kaufen, um sich sexuell zu befriedigen. In Deutschland gehört
das zum Lifestyle vieler Männer dazu. Man darf nicht vergessen, dass die
Lobby groß ist: Bordellbetreiber, die über entsprechende finanzielle
Mittel verfügen. Es ist unglaublich, wie viel Geld allgemein in der
Prostitution im Umlauf ist. Die Prostitution hängt zudem eng zusammen mit
weiteren Kriminalitätsbereichen: Drogenhandel, Organhandel und auch
Waffenhandel. Das findet alles im Rotlicht statt und ist oft miteinander
verknüpft.

Wie wird denn aktuell in Deutschland rechtlich mit Prostitution
umgegangen?

Seit 2017 haben wir das Prostituiertenschutzgesetz. Das bedeutet, Menschen
in der Prostitution müssen geschützt werden. Ein wesentlicher Baustein des
neuen Gesetzes ist es auch, den Menschenhandel aktiv zu bekämpfen. Die
Strafen für die Täter sind verhältnismäßig gering und diese haben somit
keine abschreckende Wirkung. Insofern ist es weiterhin ein krimineller
Bereich, der unter dem Scheinmantel einer "normalen" Arbeit
gesellschaftlich toleriert wird. Viele Frauen kommen aus ärmeren
Lebensverhältnissen, haben einen Migrationshintergrund und kennen ihre
Rechte auch gar nicht, weil sie zum Beispiel die Sprache nicht sprechen.
Diese Hilflosigkeit wird von kriminellen Gruppierungen häufig ausgenutzt.

Inwieweit ist es denn derzeit möglich, legal als Prostituierte in
Deutschland zu arbeiten?

Um legal in der Prostitution zu arbeiten, ist eine behördliche Anmeldung
notwendig, eine Gesundheitsberatung und ein Anmelde- und
Informationsgespräch. Im Anschluss erhält man eine entsprechende
Bescheinigung. Diese Bescheinigungen müssen alle 6 bzw. 12 Monate
aktualisiert werden. Aber auch eine Frau mit einem legalen Ausweis kann
ein Opfer von Menschenhandel sein. In Deutschland arbeiten ca. 30.000
Menschen legal in der Prostitution. Es wird davon ausgegangen, dass der
illegale Bereich wesentlich größer ausfällt.

Gibt es in Deutschland in Bezug auf Prostitution auch regionale
Unterschiede?

Ja, tatsächlich gibt es große Unterschiede. Allein in der Wortwahl: Im
nordischen Raum spricht man eher von Sexarbeit. Dort würde man den Begriff
Prostitution eigentlich nicht verwenden und hat einen liberaleren Umgang
damit. Man versteht es auch als Arbeit. In Süddeutschland ist es eher
vereinzelt, dass man von Sexarbeit spricht. Zudem muss man die
geografische Lage berücksichtigen, zum Beispiel Mannheim war immer ein
Hotspot für Menschenhandel. Es gibt dort die Nähe zum Flughafen und es ist
eine Metropolregion mit sehr viel Industrie. Die Stadt war früher ein
Stützpunkt der Amerikaner. Die hatten dort ihr Headquarter, wo viele
Soldaten stationiert waren. Aus der Forschung weiß man, dass dort, wo
Krieg ist, die Vergewaltigungen ansteigen und auch die Prostitution
stärker verbreitet ist.

Wie sieht es außerhalb der großen Städte aus?

Auch der ländliche Bereich ist spannend. Ich war überrascht, wie hoch die
Zahlen auch hier in Oberschwaben und im Bodenseekreis sind. Viele sind der
Meinung, das wäre hier kein Thema, weil es in der öffentlichen Wahrnehmung
nicht so präsent ist. Es ist trotzdem da. Die Nähe zur Schweiz und zu
Österreich, gerade dieser grenznahe Raum spielt eine große Rolle. Zudem
ist Friedrichshafen eine Messestadt. Es gibt kriminelle Strukturen, die
mit den Bordellen zusammenarbeiten, um die Frauen von A nach B zu fahren.
Da gibt es Routen und Wege, um die Frauen durch Deutschland und Europa zu
schleusen. Wir wissen auch, gerade zum Beispiel in Lörrach und Villingen-
Schwenningen, dass viele Freier aus der Schweiz rüberfahren, weil es viel
billiger ist. Der Schwarzwald ist stark betroffen von illegaler
Prostitution. Denn Prostitution ist erst ab einer Einwohnerzahl von 35.000
Bürger*innen erlaubt. Da die Frauen dort oft nicht legal der Prostitution
nachgehen dürfen, mieten sie sich dann ein Zimmer im Hotel, in einer
Pension oder eine Ferienwohnung. Außerdem hat sich sehr viel ins Internet
verlagert. Der Kunde von heute geht nicht mehr ins Bordell, denn die
Gefahr ist groß, dass das irgendwie rauskommt. Es ist nun noch anonymer
und man nimmt über bestimmte Plattformen direkt mit den Frauen Kontakt
auf. Diese Entwicklung wurde auch durch Corona begünstigt, denn die
Bordelle waren zwischenzeitlich geschlossen. Das heißt, die Frauen und
Freier waren gezwungen, alternative Wege zu finden.

Zum Abschluss und im Hinblick auf ihre Arbeit am Polizeiruf 110 würde ich
gerne wissen, wie Sie auf den medialen Umgang mit Prostitution blicken?

Teilweise gibt es große Unterschiede, wie Medien das Thema Prostitution
aufgreifen, insofern muss es differenziert betrachtet werden. Ich wünsche
mir, dass Produktionsfirmen mehr Wert auf Qualität setzen und auch Zeit
für eine umfangreiche Recherche investieren.  Meistens fehlt diesen dafür
aber die Zeit und das Thema wird oberflächlich und einseitig dargestellt.
Es gibt einige gute Sendungen, aber mein Gesamteindruck ist, dass es noch
nicht vollständig gelungen ist, das Thema in die Gesellschaft zu tragen.
Deswegen finde ich den Polizeiruf 110 unter dem Titel "Sie haben Namen"
richtig gelungen. Florian Oeller hat umfangreich recherchiert. Ich glaube,
dieser Krimi wird große Wellen schlagen. Denn das Rotlichtmilieu wird
schonungslos und realitätsnah dargestellt.

Text: Alec Weber

Originalpublikation:
https://www.rwu.de/news-medien/aktuelles/pressemitteilungen/julia-wege-im-
interview-ueber-ihre-arbeit-fuer-die

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