Der Talentscout für Heilige in der Literatur
Vom Heiligen Franziskus bis zum Fussballer Maradona: Berühmte Figuren
dienen als Projektionsfläche und Botschafter für unsere Werte.
Wie das
geht, erforscht Literaturwissenschaftler Nicolas Detering.
«Wie hängt Literatur mit Gesellschaft und Kultur zusammen? Welchen Beitrag
kann sie leisten, die Fragen der Gegenwart mit Blick auf die Vergangenheit
zu beantworten? Wie erzählt sie Identität, Werte oder Krisen?» Die
Forschung von Nicolas Detering findet nicht nur in Bibliotheken und
Archiven statt, sondern auch bei der Zeitungslektüre, in Kunstmuseen und
auf Reisen. So hat eines seiner aktuellen Forschungsprojekte zur Poetik
des Sakralen, das vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) gefördert wird,
auch auf Reisen durch Italien seinen Anfang genommen. Detering, der
ursprünglich aus Hamburg kommt und seit fünf Jahren als Professor für
Neuere deutsche Literatur und Komparatistik an der Universität Bern
arbeitet, reist gern und regelmässig ins südliche Nachbarland, auch weil
seine Frau dort Familie hat. In Neapel etwa ist ihm aufgefallen, dass
Diego Maradona dort wie ein Heiliger verehrt wird und sich dies auch in
den omnipräsenten Darstellungen des Fussballers niederschlägt, auf denen
er meist mit einem Heiligenschein versehen ist.
Neben vielen anderen hat diese Beobachtung den Blick des
Literaturwissenschaftlers dafür geöffnet, wie oft bis heute in Literatur,
bildender Kunst und eben auch in der Populärkultur auf die Bilder und
Legenden von Heiligen zurückgegriffen wird – selbst in Gesellschaften, die
als säkular gelten. «Heiligenlegenden waren im europäischen Mittelalter
die dominierende literarische Gattung. In der Zeit der Reformation und
insbesondere der Aufklärung gerieten diese und der ganze Heiligenkult in
die Kritik.» Doch die Legenden seien deshalb nicht verschwunden, sondern
nach und nach umfunktioniert worden. Sie würden bis heute dazu verwendet,
um bestimmte Werte, etwa ökologische Fragen, Fragen von Gleichstellung,
von geschlechtlicher oder sexueller Identität zu thematisieren, «indem man
sie auf diese Figuren projiziert.» Dies sei etwa bei Maradona der Fall,
der auch dafürstehe, dass man aus einer diskriminierten Unterschicht
kommen, einen ungewöhnlichen Lebenswandel pflegen und dann doch eine Art
Heiliger werden könne.
Hauchdünne Grenze zwischen Heiligkeit und Stigma
Warum sich gerade die Heiligenfiguren für derartige Projektionen anbieten,
erklärt Detering so: «Anders als wir es aus der Literatur gewohnt sind,
sind Heilige nicht aktiv handelnde Figuren, die eine Entwicklung
durchlaufen und sich nach psychologisch plausiblen Kriterien verhalten.
Nein, es sind reine Typen, die ihr Leben gänzlich Gott zuwenden, der sie
steuert.» Gleichzeitig – und das mache sie wohl für die Literatur der
Moderne so interessant – würden sie als Aussenseiter und oftmals
Wahnsinnige gelten, die mit unserer gesellschaftlichen Ordnung brechen,
die also zum Beispiel nicht heiraten, keine Familie gründen und sich so
auch der Heteronormativität entziehen.
Die Verwendung von Heiligenfiguren sei beileibe kein Nischenphänomen,
sondern ziehe sich durch die gesamte Literatur seit der frühen Neuzeit,
auch durch die kanonische, berichtet Detering weiter. Heinrich von Kleist
habe Heiligenlegenden geschrieben, Gottfried Keller, Thomas Mann, Emmy
Hennings, Anne Seghers und viele mehr. Zu den bekanntesten Beispielen von
modernen Heiligendlegenden gehört laut Detering etwa «Die Legende vom
heiligen Trinker» von Joseph Roth. Sie nutze ein erzählerisches
Charakteristikum von Heiligenlegenden, nämlich die inhaltliche Nähe von
Heiligkeit und sozialem Stigma, um über das Elend eines obdachlosen
Alkoholikers in Paris berichten zu können.
Auch in anderen Varianten werfen konkrete Heiligenlegenden in der Moderne
aktuelle Fragen auf. Der Heilige Sebastian etwa wird in der Renaissance-
Malerei, von Pfeilen durchbohrt, als junger und schöner, aber auch
verletzlicher nackter Jüngling dargestellt und ist über die Jahrhunderte
immer mehr zur Chiffre für homoerotisches Begehren geworden. Der
amerikanische Schriftsteller David Leavitt zieht ihn in der Novelle «The
Lost Language of Cranes» aus dem Jahr 1986 über das Outing eines
homosexuellen jungen Mannes als eine Ikone der sexuellen und emotionalen
Entfremdung heran. Oder der Heilige Franziskus, der mit Tieren spricht,
wird bis heute herangezogen, um über ökologische Fragen zu schreiben. Wenn
die Projektionsflächen, die Heiligenfiguren bieten, von den Autorinnen und
Autoren dazu benutzt werden, um über tabuisierte Themen wie beispielsweise
Homosexualität, Prostitution und Psychopathologien zu schreiben, können
sie eine subversive Kraft entfalten, indem sie irritieren und zum Denken
anregen, so Detering.
Wie Literatur vom Dialekt abgekommen ist
Wenn er über seine Forschung spricht, stellt Detering immer wieder Bezüge
her zur Gegenwart und ihren Herausforderungen. Das gilt auch für sein
neustes Projekt. Es stellt nämlich die Frage, warum die Schweizer
Literatur seit der Phase nach dem westfälischen Frieden und dem
Ausscheiden der Schweiz aus dem Reichsbund 1648 mehrheitlich in
Schriftdeutsch gehalten ist, obwohl sie bis dahin Dialektdeutsch verwendet
hat. Eine grundsätzliche Frage, auf die der Deutsche erst hierzulande
gestossen ist. «Diese Fragen nach Standarddeutsch und Dialekt,
Mehrsprachigkeit auch in der Literatur, die habe ich mir vorher nie
gestellt. Ich habe früher auch nie darauf geachtet, dass es ja zum
Beispiel bei Thomas Mann oft dialektal zugeht.»
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Zur Person
Nicolas Detering ist gebürtiger Hamburger und studierte deutsche und
englische Literaturwissenschaft. Er dissertierte 2016 mit einer Arbeit
über die Geschichte des Europa-Diskurses. An der Universität Konstanz
habilitierte er 2023 zum Thema Märtyrer und Legenden und lehrte dort von
2017 bis 2019. Seit 2019 ist er Professor für Neuere deutsche Literatur
und Komparatistik an der Universität Bern. Zu seinen
Forschungsschwerpunkten gehören die europäische Literatur der Frühen
Neuzeit, Literatur und Religion im 19. Jahrhundert, deutsche Literatur im
Ersten Weltkrieg, Pressegeschichte und Journalistisches Erzählen,
literarische Zeitsemantik und Narratologie.