25 Jahre nach Lothar: Wie der Orkan den Wald umbaute
Am Morgen des 26. Dezember 1999 fegte der Orkan «Lothar» über die Schweiz
und warf rund 14 Millionen Kubikmeter Holz zu Boden, das Dreifache der
jährlichen Holzschläge.
WSL-Expertinnen und Experten beantworten
zahlreiche Fragen dazu, wie es dem Wald 25 Jahre danach geht.
Zitate
«Lothar führte uns vor Augen, welche Schäden Extremereignisse haben
können. Im Mittelland war das Ausmass beispielslos, man würde heute sagen
‘unfassbar’.» Thomas Wohlgemuth, Störungsökologe WSL.
«Windwurf bringt Bewegung in die sonst eher ‘träge’ Waldvegetation. Auf
zunächst gut zugänglichen Flächen war nach zwei bis drei Jahren teilweise
kein Durchkommen mehr, weil der Unterwuchs so wucherte. Nicht geräumte
Flächen konnte man zum Teil nur noch auf den übereinander liegenden
Baumstämmen in zwei bis drei Metern Höhe begehen – sofern die Rinde noch
hielt.» Michael Nobis, Botaniker WSL
«Die Schweiz war dank den praktischen Lehren aus Vivian 1990 und der
Forschung der WSL deutlich besser vorbereitet als bei Vivian –
organisatorisch, technisch, ökologisch. Es gab insbesondere auch viel
weniger Todesfälle bei den Aufräumarbeiten als bei Vivian und es wurde
danach insgesamt auch mehr auf naturnahe Waldbewirtschaftung geachtet.»
Peter Bebi, Waldökologe und Schutzwaldspezialist SLF
«Es ist beeindruckend, wie nach 20 Jahren aus apokalyptischen
Baumfriedhöfen dynamische und üppig spriessende Ökoparadiese mit sonst
selten zu sehenden Bewohnern geworden sind.» Beat Wermelinger,
pensionierter Insektenspezialist WSL
Wie schlimm war Lothar für den Schweizer Wald?
Es war mit Abstand der heftigste Wintersturm in Europa und in der Schweiz,
was die Waldschäden betrifft. Allein in der Schweiz warf er 14 Millionen
Kubikmeter Holz um. Das ist fast das Dreifache der Menge Holz, die in der
Schweiz jährlich geschlagen wird oder rund 3500 Lastwagenladungen.
Schlimm war das für die Wald- und Holzbranche. Bei den gefährlichen
Aufräumarbeiten kamen 17 Waldbesitzer ums Leben, dazu zwei Personen in
öffentlichen Forstbetrieben. Die Preise für Rundholz sanken aufgrund des
Überangebots im Frühjahr 2000 um etwa ein Drittel.
Der Grossteil der Schäden entstand im Mittelland. Der Sturm wütete vor
allem in Wäldern, die primär der Holzproduktion dienen, aber auch in
stadtnahen Erholungswäldern. Der Schutzwald erlitt in der Zentralschweiz
grosse Schäden, wo bis zu 25 % der Schutzwälder zerstört waren.
In den folgenden Jahren, insbesondere nach dem Hitzejahr 2003, fügten
Massenvermehrungen von Borkenkäfern noch einmal fast zwei Drittel so viel
geschädigtes Holz hinzu wie der Sturm selbst.
Aus ihren langfristigen Beobachtungen leiten die WSL-Waldforschenden die
folgenden Erkenntnisse ab:
Wie haben sich die Sturmflächen entwickelt?
Auf vielen grossen Windwurfflächen sind Bäume nachgewachsen, die heute im
Mittel 10 bis 20 Meter hoch sind. Es gibt aber im Mittelland – je nach
Bodeneigenschaften und Ausgangsvegetation – auch Flächen, wo Brombeeren
oder Adlerfarn die jungen Bäume lange ausbremsten, oder wo nicht die
gewünschten Baumarten, sondern z.B. Haseln gedeihen. Wo der Sturm in
tieferen Lagen viele, zumeist gepflanzte Fichten umgeworfen hatte, sind
von Natur aus zumeist klimarobustere, artenreiche Laubmischwälder
entstanden.
Die Langfristbeobachtung förderte auch Überraschendes zu Tage: So fehlte
häufig eine Pionierphase mit schnell wachsenden Baumarten wie Birke und
Weiden. Das heisst, auf vielen Flächen wuchsen einfach die Nachkommen der
Baumarten des umgeworfenen Waldes. Ausserdem blieb trotz Räumung auf den
Windwurfflächen viel Totholz liegen, viel mehr, als in Schweizer Wäldern
üblich ist. Das ist ein Plus für die Biodiversität, da Totholz ein
wichtiger Lebensraum ist.
Durch Lothar sind viele Wälder strukturreicher geworden, was neue
Lebensräume für viele Tier- und Pflanzenarten schuf. Die Insektenvielfalt
explodierte geradezu nach dem Sturm; dies zeigte eine 20 Jahre dauernde
WSL-Studie. Diese positive Wirkung auf die Artenvielfalt nahm zwar
allmählich wieder ab, als Sträucher und Bäume die Sturmflächen
überwuchsen, hielt aber auch 20 Jahre nach Vivian und Lothar noch an.
Dabei war die Anzahl von seltenen Arten auf Sturmflächen um ein Drittel
höher als im unbeschädigten Wald. «Ungeräumte Sturmflächen sind ein
herausragender Lebensraum für gefährdete Arten, insbesondere in späteren
Zerfallsstadien», sagt Beat Wermelinger, der die Insektenvielfalt auf
Sturmflächen während Jahrzehnten untersucht hat. Eine Studie der
Schweizerischen Vogelwarte wies nach, dass Spechte von Lothar profitieren
konnten, da sie sich von Insekten unter der Baumrinde oder in morschem
Holz ernähren.
Welche Lehren hat man gezogen?
Wenn kräftige Stürme auf grossen Flächen Wälder umwerfen, folgt in
fichtenreichen Beständen für einige Jahre fast immer eine starke
Vermehrung von Borkenkäfern. Das betrifft zuerst den Randbereich der
Sturmflächen, danach auch den angrenzenden, geschwächten Bestand. Müssen
wichtige Waldfunktionen geschützt werden, gilt es besonders in Tieflagen,
beschädigte Fichten so rasch wie möglich zu räumen. Sobald es wärmer wird,
vermehren sich Borkenkäfer auf Fichten rasch. Allerdings reichen die
Kapazitäten der Forstdienste bei einem derart grossen Sturm im Allgemeinen
nicht aus, um die befallenen Fichten rechtzeitig zu entfernen. Deshalb
konzentrieren sich die Bemühungen darauf, zu verhindern, dass die Käfer
lebende Bäume befallen.
In Schutzwaldflächen kann es nach Stürmen sinnvoll sein, die am Boden
liegenden Bäume zu entrinden und anschliessend liegen zu lassen, weil sie
auf diese Weise mittelfristig Schutz vor Steinschlag und Lawinen schützen
können.
Im Mittelland ist die Fichte nicht heimisch, die Forstwirtschaft hat sie
für die Holzproduktion grossflächig angepflanzt. Sie ist nicht nur
anfällig für Winterstürme und Borkenkäfer, sondern sie leidet auch unter
Hitze und Trockenheit. Inzwischen wird sie dort deutlich seltener, wie
dies das von der WSL durchgeführte Landesforstinventar LFI zeigt. Auf den
Sturmflächen wuchsen stattdessen auf natürliche Weise viele Laubbaumarten
nach, die als klimarobust gelten, wie Eiche, Kirschbaum, Berg- und
Spitzahorn.
Ein Sturm ist, wie mehrere Studien belegen, eine Chance für die
Artenvielfalt, beispielsweise von Insekten. Um diese zu erhalten und zu
fördern, sollte nach einem Windwurf nur ein Teil der Flächen vom Sturmholz
geräumt werden. Ein Mosaik von geräumten und ungeräumten Sturmflächen
sowie intaktem Wald ist aus Sicht der Biodiversität am besten.
Insbesondere altes Totholz ist ein wertvoller Lebensraum, der erst durch
die Zunahme von Extremereignissen der letzten Jahre (Stürme, Trockenheit,
Borkenkäfer) häufiger geworden ist.
Welche Baumarten werden heute vermehrt angepflanzt, die sturm- und auch
klimawandelresistenter sind?
Da Laubbäume im Winter keine Blätter haben und so dem Wind weniger
Angriffsfläche bieten, sind sie generell weniger anfällig für Winterstürme
als Nadelbäume - ein Zusammenhang, der sich mit zunehmender Baumhöhe
akzentuiert. Laubbäume tolerieren zudem Wärme und Trockenheit tendenziell
besser. Die Schweizer Forstleute pflanzen heute im Vergleich zu vor 1990
generell viel weniger Bäume. Sie fördern vielmehr natürlich nachwachsende,
erwünschte Arten, indem sie ihnen Licht schaffen und sie vor dem Wild
schützen. Heute stehen allerdings auch wieder vermehrt gepflanzte, vor
Verbiss geschützte Bäume in Waldöffnungen, um gewünschte Baumarten vor
rasch aufkommenden Brombeeren und hungrigem Wild in die Zukunft zu retten.
Schützt das Totholz noch genügend vor Naturgefahren?
Peter Bebi, Schutzwaldexperte am SLF, hat untersucht, wie sich der
Naturgefahrenschutz von Sturmflächen im Gebirge entwickelte. Das Fazit:
Herumliegende Stämme und Wurzelteller trugen erstaunlich lange zum Schutz
gegenüber Lawinen und Steinschlag bei. Innert 20 Jahren wurden die
übereinander liegenden Bäume von mehreren Metern Höhe auf 80 Zentimeter
zusammengedrückt. Dennoch genügte die Bodenrauigkeit in vielen Fällen,
sodass der Naturgefahrenschutz nach dem Windwurf weniger stark zurückging
als erwartet.
Kaum jemand wäre vor 1990 auf die Idee gekommen, in Schutzwäldern nach
Stürmen nicht aufzuräumen. Dank der WSL-Forschung auf Windwurfflächen hat
sich das Spektrum der Handlungsoptionen nach Windwurf erweitert. Heute
können Forstdienste besser abschätzen, wann es sinnvoll ist, Sturmholz
liegen zu lassen, nur teilweise zu räumen oder mit Pflanzungen und
weiteren Schutzmassnahmen zu kombinieren.
Wie ist die Situation Ende 2024 und wie geht es den Wäldern heute?
Das Jahr 2024 war feucht und für die Wälder mehrheitlich eine Zeit der
Erholung, nachdem die Schweiz seit 2018 eine Reihe von trockenen Jahren
erlebt hatte. Diese haben dem Wald stark zugesetzt (siehe News «Der
Schweizer Wald leidet unter den Wetterextremen») und die Sterberate von
Bäumen erhöht.
Ist heute der Wald in der Schweiz besser gewappnet für ein «Jahrhundert-
Sturmereignis» wie Lothar?
Weil im Mittelland heute deutlich weniger Fichten und mehr Laubbäume
stehen als zu Lothar-Zeiten: Ja. Die Borkenkäfer finden generell etwas
weniger Bäume vor. Doch das wärmere Wetter und stärkerer Trockenheit
dürften zu noch stärkeren Massenvermehrungen führen. Dies hat der letzte
grosse Wintersturm Burglind 2018 und der starke Borkenkäferbefall von 2018
bis 2020 auf der Alpennordseite deutlich vor Augen geführt.
Winterstürme sind ein typisches Phänomen in West-, Nord- und Mitteleuropa.
Danach vermehren sich jeweils die Borkenkäfer zuhauf, zuerst in
gebrochenen, geworfenen oder geschwächten Fichten. Im Verlauf von
Massenvermehrungen befallen sie häufig auch gesunde Fichten. Bei Wärme,
die mehr Käfergenerationen ermöglicht, und Trockenheit, die die Fichten
zusätzlich schwächt, explodieren die Käferzahlen und sinken erst mehrere
Jahre später wieder. Dieses Muster zeigte sich bei Vivian 1990, dann bei
Lothar 1999 und wieder beim Sturm Burglind 2018.
Es ist davon auszugehen, dass es früher oder später wieder zu grossen
Stürmen kommt; stärkere Stürme als Lothar sind in Europa schwer
vorstellbar, aber mit dem Klimawandel nicht ausgeschlossen. Aber die
Waldfachleute sind heute besser darauf vorbereitet, dank den Erfahrungen
von Vivian und Lothar, aber auch dank den langfristigen
Forschungsprojekten der WSL.