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Zwischen Heilung und Verbrechen

Ganzseitige Foto-Bildstrecke zur „NS-Betriebs-Gesundheitsführung“ aus: Der Schulungsbrief 6 (1939)  Quelle: Sammlung Ulrich Prehn
Ganzseitige Foto-Bildstrecke zur „NS-Betriebs-Gesundheitsführung“ aus: Der Schulungsbrief 6 (1939) Quelle: Sammlung Ulrich Prehn
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Ausstellung in Berlin beleuchtet die dunklen Kapitel der NS-
Medizingeschichte / Forschungsprojekt des Zentrums für
Antisemitismusforschung liefert neue Erkenntnisse



Das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) und die Kassenärztliche
Bundesvereinigung (KBV) präsentieren ab dem 29. November 2024 erstmals die
Wanderausstellung „Systemerkrankung. Arzt und Patient im
Nationalsozialismus“. Die Ausstellung markiert den Abschluss eines von der
KBV initiierten Forschungsprojekts des ZfA zur Geschichte ihrer
Vorgängerorganisation, der Kassenärztlichen Vereinigung Deutschlands
(KVD). Die KVD war im Nationalsozialismus maßgeblich an der Entrechtung
jüdischer sowie oppositioneller Kassenärzte beteiligt.

Einzigartiger Ansatz: Ärzt*innen, Patient*innen und Standesorganisationen
im Fokus

„Die Wanderausstellung ‚Systemerkrankung‘ dokumentiert erstmals
systematisch das Verhältnis dreier Akteursgruppen: Ärzt*innen,
Patient*innen und die Kassenärztliche Vereinigung Deutschlands, die
zentrale Standesorganisation der Kassenärzte in der NS-Zeit“, erklärt
Kurator Dr. Ulrich Prehn, der das Forschungsprojekt durchgeführt hat.
Während die Rolle der Ärzteschaft zwischen 1933 und 1945 sowie deren
Beteiligung an Verbrechen im Nationalsozialismus bereits vergleichsweise
gut erforscht ist, waren die Perspektiven der Patient*innen und die der
Standesorganisationen bisher weniger im Fokus. „Genau hier setzt die
Ausstellung an und liefert wichtige neue Erkenntnisse“, so Prehn.

Historische Fallgeschichten machen die Ausstellung greifbar

Die Ausstellung beleuchtet ein breites Themenspektrum: von der
(Selbst-)„Gleichschaltung“ der ärztlichen Standesorganisationen über die
Verdrängung jüdischer und oppositioneller Ärzt*innen, Zwangssterilisation
und Krankenmord bis hin zu Humanexperimenten in Konzentrationslagern und
der medizinischen Versorgung während des Krieges.

Anhand konkreter Schicksale und Fallgeschichten wird die Geschichte
lebendig. Beispielsweise erzählt die Ausstellung von Ella Lingens, die als
Häftlingsärztin in Auschwitz-Birkenau unter extremen Bedingungen
arbeitete, oder vom Künstler Paul Goesch, der im Rahmen der „T4
“-Euthanasie-Aktion in der Tötungsanstalt Brandenburg an der Havel
ermordet wurde. Eine weitere Geschichte führt in das Berlin der 1930er
Jahre. Im Fokus steht das Grundstück der heutigen Technischen Universität
Berlin, auf dem sich einst die psychiatrische Klinik des jüdischen Arztes
Dr. Karl Edel befand. Nach massivem Druck durch den Geschäftsführer der
KVD-Landesstelle Berlin stimmten die Erben von Dr. Edel 1937 dem Verkauf
der Immobilie an die KVD zu. Diese plante dort ein repräsentatives „Haus
der deutschen Ärzte“, das allerdings nie realisiert wurde.
Ebenso thematisiert wird die mutige Zivilcourage des Ehepaars Auguste und
Karl Gehre, das die Familie ihres jüdischen Hausarztes Dr. Arthur Arndt
versteckte und so vor der Deportation rettete.

In einem anderen Fall erfahren die Besucher*innen von dem Schicksal des
17-jährigen Klaus Reichmuth, der zu sechs Monaten „Schutzhaft“ im KZ
Sachsenhausen verurteilt war und Hilfe u. a. durch einen polnischen
Häftlingspfleger erfuhr – der nach seiner Entlassung Arzt und später
Medizinprofessor in Polen wurde.

Neue Erkenntnisse zu NS-Medizinverbrechen

Das 2018 gestartete Forschungsprojekt „Die Kassenärztliche Vereinigung
Deutschlands (KVD) im Nationalsozialismus“ ist Grundlage für die
Ausstellung. In dessen Rahmen wurde das Historische Archiv der KBV – eine
Sammlung von rund 900 umfangreichen Archivalieneinheiten – erstmals
systematisch erfasst und ausgewertet.
Dabei konnten bisher unerforschte Aspekte der NS-Medizinverbrechen
beleuchtet werden. Beispielsweise zeigt die Ausstellung, wie die ärztliche
Schweigepflicht durch die NS-Gesetzgebung sukzessive ausgehöhlt wurde. „Ab
1936 konnte die Schweigepflicht aufgehoben werden, wenn das ‚gesunde
Volksempfinden‘ dies verlangte. Auch militärische Interessen der Wehrmacht
wurden höher gewichtet als die Rechte einzelner Patient*innen“, erklärt
Dr. Prehn.

Multimediale Aufbereitung und persönliche Einblicke

Die Ausstellung kombiniert historische Dokumente, Fotografien und Videos
mit Interviews von jüdischen Ärzt*innen oder ihren Nachfahren. An
Medienstationen können Besucher*innen Einblicke in visuelle Formen des
Antisemitismus erhalten, etwa in die Darstellung jüdischer Ärzte als
„Abtreiber“ oder als angeblich sittliche Gefahr für nichtjüdische
Patient*innen. Diese Materialien sind bisher wenig kritisch untersucht
worden.

Hintergrund: Ärzt*innen im Dienst der NS-Ideologie

Ärzt*innen spielten im Dritten Reich eine Schlüsselrolle. Im Namen der
sogenannten Rassenhygiene teilten sie Menschen in „wertes“ und „unwertes“
Leben ein – mit tödlichen Konsequenzen. Zwangssterilisationen,
Krankenmorde und grausame Menschenversuche in Konzentrationslagern
gehörten ebenso dazu wie die Gleichschaltung ärztlicher
Standesorganisationen und die systematische Verdrängung jüdischer
Kolleg*innen.

Ausstellungstermine und weitere Informationen

Die Ausstellung ist vom 29. November 2024 bis 28. Januar 2025 in Berlin zu
sehen. Anschließend wird sie 2025 und 2026 deutschlandweit bei
verschiedenen Kassenärztlichen Vereinigungen gezeigt.

„Systemerkrankung. Arzt und Patient im Nationalsozialismus“
Wanderausstellung über Ärzt*innen und Patient*innen im Dritten Reich
Wann: 29. November 2024 – 28. Januar 2025 (kostenlos)
Wochentäglich besuchbar zu den Bürozeiten der KBV (9:00 - 20:00 Uhr)
Wo: Herbert-Lewin-Platz 2, 10623 Berlin, Foyer im Gebäudeteil I
Kurator: Dr. Ulrich Prehn, TU Berlin
Wissenschaftliche Begleitung: Dr. Ulrich Prehn und Sjoma Liederwald, TU
Berlin/Zentrum für Antisemitismusforschung

Weiterführende Informationen:

Projektseite beim Zentrum für Antisemitismusforschung
<https://www.tu.berlin/go151816/>
Themenseite: KBV unterstützt Aufarbeitung der NS-Zeit
<https://www.kbv.de/html/37666.php>

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