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„Der Biodiversitätsverlust nimmt auf zögerliche politische Prozesse keine Rücksicht“ - Interview mit Marion Mehring

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Mit dem Weltnaturabkommen wurden im Dezember 2022 die globalen
Voraussetzungen zur Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen gelegt.
Seitdem stehen alle 196 Vertragsstaaten in der Pflicht, die Beschlüsse aus
dem sogenannten „Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework“ (GBF)
umzusetzen. Deshalb muss nun auch Deutschland dringend seine „Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt 2030“ (NBS) überarbeiten. ISOE-
Biodiversitätsforscherin Marion Mehring war am Dialogprozess für die
Entwicklung der Nationalen Strategie beteiligt. Im Interview berichtet sie
über die Herausforderungen, vor denen der Biodiversitätsschutz steht und
über politische Rollbacks beim Schutz der Artenvielfalt.

Sie waren im vergangenen Jahr am Dialogprozess zur Entwicklung der
Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt 2030 beteiligt. Wie gut
sind wir dort vorangekommen?

Grundsätzlich ist es aus meiner Sicht ein Fortschritt, dass die Nationale
Strategie zur biologischen Vielfalt 2030 betont, dass eine Trendwende zum
Erhalt der Artenvielfalt dringend notwendig ist. Das ist ein wichtiger
Schritt. Ähnliches stand bereits im Abschlussbericht der
„Zukunftskommission Landwirtschaft“ der Vorgängerregierung. Aber solange
die Strategie im Entwurfsstadium bleibt, nützt sie uns wenig. Der
Biodiversitätsverlust schreitet voran und nimmt auf zögerliche politische
Prozesse keine Rücksicht.

Sie spielen darauf an, dass sich die Nationale Strategie zur biologischen
Vielfalt 2030 verzögert?

Nicht nur das. Dass die Verabschiedung der NBS 2030 so lange auf sich
warten lässt, ist das Eine. Das Andere ist, dass in Deutschland und
übrigens auch in der EU insgesamt eine bedenkliche Entwicklung zu
beobachten ist. Trotz internationaler und nationaler Verpflichtungen,
werden ja auch bereits ausgehandelte Maßnahmen verzögert. Gemeinsam von
Naturschutz und Landwirtschaft ausgehandelte Strategien und Maßnahmen, wie
die aus der genannten Zukunftskommission Landwirtschaft, werden nicht
umgesetzt.

Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?

Da vollzieht sich eine Art ökologischer Rollback beim
Biodiversitätsschutz. Bestehende Regelungen mit sinnvollen Umweltstandards
werden zurückgenommen, wie zum Beispiel die Flächenstilllegung. Dringend
notwendige Gesetze wie das „Nature Restoration Law“, für das das EU-
Parlament im Juli 2023 gestimmt hat, hat der EU-Umweltrat nur mit denkbar
knapper Mehrheit im Juni 2024 beschlossen. Anstatt des „Green Deal“ setzt
die EU-Kommission kontraproduktive Agrarförderungen durch. Das ist nicht
einmal im Sinne der Land- und Forstwirtschaft zielführend, denn sie sind
ja selbst vom Biodiversitätsverlust betroffen. Das Zögern, Zaudern und
Zurücknehmen von verabredeten Standards ist nicht nur fatal für die
Artenvielfalt, sondern auch für Unternehmen, Land- und Forstwirtschaft.
Fatal ist es letztlich für alle, dass von den verabredeten Verpflichtungen
für den Schutz der Artenvielfalt zum großen Teil nur noch
Lippenbekenntnisse übrig sind.

Der Naturschutz hat derzeit in Deutschland ohnehin einen schweren Stand.
Er wird immer wieder als Begründung für zu lange Planungsverfahren oder
überbordende Bürokratie genannt. Umweltstandards und Beteiligungsrechte
von Umweltverbänden werden in Frage gestellt. Wie lässt sich das ändern?

Damit es gelingt, Natur- und Artenschutz politisch als Priorität zu
verankern, müssen wir als Gesellschaft zuerst etwas sehr Grundlegendes
verstehen und anerkennen. Wir haben in einer Zukunft ohne Natur und deren
Schutz keine Chance zu überleben. Für jedwede Entwicklung, auch für eine
wirtschaftlich erfolgreiche Zukunft, sind wir auf die Bewahrung der Natur
und ihre Vielfalt angewiesen. Das heißt, Biodiversität ist existenziell.
Für unsere Nahrung, unsere Gesundheit, für unser Wasser und zu unserem
Schutz vor Extremereignissen. Viele haben das schon verstanden, und zum
Glück haben auch Unternehmen Initiativen gestartet, wie z.B. die
„Biodiversity in Good Company“-Initiative. Damit unterstützen sie die
Biodiversität derzeit sogar weitreichender als die Politik.

Die Wirtschaft ist der Politik beim Biodiversitätsschutz voraus?

In Teilen ja. Beispielgebende Unternehmen zeigen, wie man Naturschutz
voranbringen kann: Sie machen den Biodiversitätsschutz zum Thema,
anerkennen damit auch die Not der Lage und starten Initiativen, ohne
darauf zu warten, dass ausständige politische Entscheidungen endlich zum
Tragen kommen. Ich würde mir natürlich wünschen, dass alle gleichermaßen
im Boot sind, die Politik inklusive. Solange aber politische Prozesse ins
Stocken geraten, sollten Schutz und Erhöhung der biologischen Vielfalt
durch neue Allianzen in die Gesellschaft getragen und von der Gesellschaft
unterstützt werden. Deshalb kann ich die Verantwortlichen in der
Wirtschaftsförderung, in den Unternehmen und alle in den vielen
gesellschaftlichen Organisationen in Deutschland organisierten Menschen
nur ermutigen, sich gemeinsam für den Wandel stark zu machen. Ihr
Schulterschluss kann zeigen, dass Wirtschaft und Umweltschutz,
gesellschaftliche Teilhabe und soziale Gerechtigkeit gemeinsam gelingen
kann.

Und die Wissenschaft? Wo liegen die Herausforderungen für die
Biodiversitätsforschung?

Wir wissen heute sehr genau, wie es um die Artenvielfalt und die
Ökosysteme steht. Auch die sogenannte Zwillingskrise, also das
Zusammenspiel von Klimawandel und Biodiversitätskrise, ist
wissenschaftlich inzwischen recht gut verstanden. Die
Biodiversitätsforschung muss sich jetzt dringend auch mit der Frage
beschäftigen, warum der enorme Wissenszuwachs, den die internationale
sowie nationale Biodiversitätsforschung in den letzten Jahren bewirkt hat
und der den Verlust der Artenvielfalt und seine Mechanismen so eindeutig
belegt, diesen Verlust bisher nicht stoppen konnte.

Über die erschreckenden Ergebnisse der Biodiversitätsforschung wurde in
den letzten Jahren viel berichtet. Warum hat das so wenig ausgelöst?

Ich denke, die Wirksamkeit von Forschungsergebnissen auf gesellschaftliche
Debatten und politische Entscheidungen wurde falsch eingeschätzt, übrigens
nicht nur die der Biodiversitätsforschung. Es ist offensichtlich, dass
wissenschaftliches Wissen nicht in der Form zu Gesellschaft und Politik
durchdringt, wie es für eine Trendwende notwendig wäre. Und da müssen wir
uns als Forschende kritisch fragen, liegt das nun an den Empfängern? Oder
liegt es vielmehr an der Art, wie wir wissenschaftliches Wissen vermitteln
und welches Wissen vermittelt wird? Aus meiner Sicht muss sich
Biodiversitätsforschung viel stärker darum bemühen, relevantes
Handlungswissen für Gesellschaft und Politik zur Verfügung zu stellen. Im
Kern geht es darum, zu verstehen, wer eigentlich welches Wissen braucht,
um Veränderungen herbeizuführen. Denn bei aller Notwendigkeit von
Regelungen und Gesetzen zum Schutz der Artenvielfalt geht es immer auch
darum, dass der Einzelne konkret wissen muss, was er tun kann, um einen
Beitrag zur Artenvielfalt zu leisten.

Wie kann Forschung dazu beitragen?

Biodiversitätsforschung muss sich insgesamt breiter aufstellen, weit über
naturwissenschaftliche Fragen hinaus. Wenn wir wissen wollen, was die
naturwissenschaftlich messbaren Veränderungen bei der Biodiversität
begünstigt beziehungsweise verhindert, müssen wir in unserer Forschung
gesellschaftliche Werte berücksichtigen, die mit Biodiversität zu tun
haben. Das bedeutet, dass wir als Forschende zunächst einmal noch besser
verstehen müssen, was Bürger*innen, Unternehmer*innen und
Entscheidungsträger*innen motiviert, sich für den Schutz von Biodiversität
zu engagieren und wo genau die Hürden liegen. Ich sehe es als eine enorm
wichtige wissenschaftliche Aufgabe, Motive und Barrieren von
Verhaltensveränderungen, also das sogenannte Behaviour Change, im
Zusammenhang mit Biodiversität zu ergründen. Hier gibt es eine große
Forschungslücke, die wir im ISOE mit unseren sozial-ökologischen
Untersuchungen konsequent zu schließen versuchen.

Dr. Marion Mehring leitet am ISOE – Institut für sozial-ökologische
Forschung das Forschungsfeld Biodiversität und Gesellschaft. Sie ist zudem
Leitautorin des Kapitels „Transformationspotenziale zum Erhalt der
biologischen Vielfalt“ im „Faktencheck Artenvielfalt“, einem Projekt zur
umfassenden Einschätzung und Bewertung der Biodiversität in Deutschland im
Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Mehring
ist auch als Expertin im Leitungsgremium der „Biodiversitäts-
Exploratorien“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft vertreten.

Zum Interview im ISOE-Blog:
https://isoe.blog/biodiversitaetsverlust-nimmt-auf-zoegerliche-politische-
prozesse-keine-ruecksicht

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