3 Fragen an Marc Hüske, Mitglied im Forschungsbeirat Industrie 4.0 und Leiter des Forum Manufacturing-X des VDMA


Industrie 4.0 hat eine Schlüsselrolle bei der systematischen Sicherung und
Weitentwicklung der Wertschöpfung in Deutschland. Dabei lassen sich
Potenziale zur Überwindung aktueller industrie- und
gesellschaftspolitischer Herausforderungen heben. Im Interview spricht Dr.
Marc Hüske über Nachhaltigkeit, technologische Souveränität,
Interoperabilität und über die Rolle des Menschen. Hüske ist Mitglied im
von acatech koordinierten Forschungsbeirat Industrie 4.0 und Leiter des
Forum Manufacturing-X des VDMA.
Herr Hüske, die Klimakrise macht die Notwendigkeit von Innovationen im
Kontext der ökologischen Nachhaltigkeit bei der Schaffung und Nutzung von
Produkten und Dienstleistungen über den gesamten Lebenszyklus hinweg
deutlich. Welche konkreten Schritte bzw. Ansätze sind dabei über die
Erforschung und Implementierung von nachhaltigen Industrie 4.0-Lösungen zu
verfolgen?
Die aktuellen Herausforderungen sind immens und angesichts der Klimakrise
sollten wir uns die technologischen Möglichkeiten zunutze machen, die sich
uns durch Digitalisierung und Automatisierung im Hinblick auf ökologische
Nachhaltigkeit bieten – unterstützt durch das exponentiell anwachsende und
uns zur Verfügung stehende Datenvolumen – auch eine Folge der EU-
Datenverordnung. Entlang des gesamten Lebenszyklus von Produkten, also von
der Rohstoffgewinnung bis zum Recycling, werden neue datenbasierte
Geschäftsmodelle entstehen, was nachweislich die Resilienz, Nachhaltigkeit
und Wettbewerbsfähigkeit der Industrie befördert. Die Folge sind eine
höhere Transparenz, effiziente Ressourcennutzung und die Möglichkeit,
schneller auf Störungen in den Lieferketten zu reagieren. Gerade bei
wichtigen Themen wie Dekarbonisierung oder Kreislaufwirtschaft spielt eine
nachhaltige Prozessoptimierung durch z. B. prozessübergreifende
Regelketten eine große Rolle. Die Implementierung von Industrie
4.0-Technologien hilft beispielsweise auch dabei, durch präzisere
Fertigungsmethoden den Materialverbrauch zu reduzieren. Durch
Geschäftsmodelle, die auf der Bereitstellung von Dienstleistungen anstelle
des Verkaufs von Produkten basieren, kann der Ressourcenverbrauch
reduziert und der Lebenszyklus von Produkten verlängert werden, man denke
nur an bestimmte Leasing- oder Sharing-Modelle. Auch im Bereich
Energieeffizienz und Emissionsreduktion wirken sich beispielsweise
intelligente Energiemanagementsysteme zur Überwachung und Optimierung des
Energieverbrauchs in Echtzeit so aus, dass der Energieverbraucht minimiert
und die Nutzung erneuerbarer Energiequellen maximiert werden kann.
Nationale und globale Einflüsse auf das Wirtschaftssystem haben die
Relevanz von Industrie 4.0 weiter verstärkt. So zeigten unter anderem die
Corona-Pandemie sowie der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine in
Verbindung mit der Knappheit wichtiger Ressourcen die Verletzlichkeit
bestehender Wertschöpfungsketten und -netzwerke auf. Gleichzeitig scheint
in verschiedenen Bereichen die technologische Souveränität des deutschen
Wirtschaftsstandorts zunehmend im internationalen Wettbewerb verloren zu
gehen. Wie kann durch Industrie 4.0 die Resilienz der Wertschöpfung sowie
die technologische bzw. strategische Souveränität von Deutschland und
Europa gesteigert werden und welche Rolle spielen dabei interoperable,
digitale Ökosysteme?
Gerade weil die technologische Souveränität ein so wichtiges Thema in der
EU und Deutschland ist, um sich im internationalen Wettbewerb vor allem
gegenüber den USA und China strategisch behaupten zu können, braucht es
Initiativen wie Industrie 4.0 sowie den Aufbau einer europäischen Cloud-
Infrastruktur wie GAIA-X und Datenrauminitiativen wie Manufacturing-X.
Interoperable, digitale Ökosysteme spielen eine ganz zentrale Rolle, wenn
es darum geht, durch Industrie 4.0 die Resilienz der Wertschöpfung und die
Souveränität unseres Wirtschaftsstandortes zu stärken. Kommt es durch
Pandemie, Krieg oder andere äußere Einflüsse zu plötzlichen Veränderungen
bei der Nachfrage und der Ressourcenverfügbarkeit wird den Unternehmen ein
hohes Maß an Flexibilität abverlangt. Durch den industriellen Datenraum,
welcher eine vertrauenswürdige Infrastruktur für das Teilen von Daten
bereitstellt, werden Unternehmen in die Lage versetzt, ihre Lieferketten
und Produktionsprozesse datengetrieben flexibel und schnell anzupassen.
Wertschöpfungsketten werden somit robuster und generell weniger anfällig
für Unterbrechungen, wenn durch Echtzeit-Datenanalyse potenzielle
Störungen frühzeitig erkannt und effizient bewältigt werden können. Mit
Manufacturing-X wird die nahtlose Integration verschiedener industrieller
Systeme über Unternehmens- und Ländergrenzen hinweg ermöglicht, was nicht
nur die Zusammenarbeit, sondern auch neue Geschäftsmodelle und
Wertschöpfungspotenziale fördert. Dies gilt gerade auch im Bereich von
Schlüsseltechnologien wie KI und IoT. Die Datenhoheit bleibt beim
Unternehmen, so dass jedes Unternehmen die vollen Vorteile aus seinen
eigenen Daten schöpfen kann. Offene Standards und Interoperabilität sorgen
dafür, dass die Zusammenarbeit insbesondere innerhalb Europas und mit
internationalen Partnern funktioniert, was Abhängigkeiten reduziert und
die europäische Position im globalen Wettbewerb stärkt, wie auch die
technologische Souveränität.
Im Kontext von Industrie 4.0 wird von Beginn an die optimale Einbindung
und Unterstützung von Menschen durch die entsprechende Gestaltung von
Arbeits- und Produktionsprozessen adressiert. Wie kann auch in Zukunft
konkret sichergestellt werden, dass der Mensch weiterhin im Zentrum dieser
Entwicklung steht?
Das ist ein Blick in die Glaskugel, aber ich bin überzeugt davon, dass
sich Arbeits- und Produktionsprozesse nicht völlig losgelöst vom Menschen
entwickeln werden. Es wird ein wie auch immer gestaltetes Miteinander
geben. Eine Rolle werden sicher Augmented Reality und Virtual Reality
spielen, wenn es um die Interaktion zwischen Mensch und Maschine geht.
Beide Technologien werden dabei helfen, komplexe Prozesse zu visualisieren
und verständlicher zu machen. Ein Einsatz im Bereich von Schulungen oder
bei Service-Mitarbeitern ist hier beispielsweise denkbar. Unerlässlich ist
aber, dass die Beschäftigten über die notwendigen Kompetenzen verfügen, um
mit neuen Technologien wie KI, Robotik und Datenanalytik umzugehen.
Lebenslanges Lernen, Neugier und die Bereitschaft, sich immer wieder auf
Neues einzulassen, gehören dabei zur Grundausstattung. Aufgabe von
Führungskräften ist es, diesen Transformationsprozess konstruktiv zu
begleiten. Produktionssysteme auf der anderen Seite sollten so flexibel
und anpassungsfähig gestaltet sein, dass sie im Hinblick auf sich immer
schneller ändernde Marktbedingungen und Kundenanforderungen entsprechend
ausgerichtet werden können. Durch die Analyse von Daten aus
Produktionsprozessen können Arbeitsabläufe nicht nur optimiert werden,
sondern kann auch dafür gesorgt werden, dass auf die individuellen Stärken
und Schwächen der Mitarbeiter eingegangen wird, was dem Miteinander von
Mensch und Maschine entgegenkommt.
Über den Forschungsbeirat Industrie 4.0:
Der Forschungsbeirat Industrie 4.0 trägt als strategisches und
unabhängiges Gremium wesentlich dazu bei, forschungsbasierte Lösungswege
für die Weiterentwicklung und Umsetzung von Industrie 4.0 aufzuzeigen und
somit Orientierung zu geben – mit dem übergeordneten Ziel, das deutsche
Innovationssystem und die Wertschöpfung zu stärken. Dafür kommen im
Forschungsbeirat aktuell 31 Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft
und Industrie mit ihrem interdisziplinären Expertenwissen zusammen,
formulieren neue, vorwettbewerblich beantwortbare Forschungsimpulse bzw.
-bedarfe, zeigen mittel- bis langfristige Entwicklungsperspektiven auf und
leiten Handlungsoptionen für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0
ab. Die Forschung im Bereich Industrie 4.0 fokussiert sich dabei verstärkt
auf Themen wie Nachhaltigkeit, Resilienz, Interoperabilität,
technologische bzw. strategische Souveränität und die zentrale Rolle des
Menschen. Die Arbeit des Forschungsbeirats wird von acatech – Deutsche
Akademie der Technikwissenschaften koordiniert, vom Projektträger
Karlsruhe (PTKA) betreut und vom Bundesministerium für Bildung und
Forschung (BMBF) gefördert.