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H-BRS aktuell: Professor Alexander Boden über die Zukunft der Mobilität

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Was in der Großstadt funktioniert, funktioniert an der Peripherie noch
lange nicht, sagt Professor Dr. Alexander Boden. Der Wissenschaftler von
der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg (H-BRS) beschäftigt sich mit seinem Team
vom Institut für Verbraucherinformatik (IVI) in mehreren
Forschungsprojekten mit dem Thema Mobilität. Er sagt auch: Die
Verkehrswende ist nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage des
politischen und gesellschaftlichen Willens.

Herr Professor Boden, Sie forschen zur Mobilität der Zukunft. Wie sind Sie
denn heute zur Hochschule gekommen?
Alexander Boden: Ich muss zugeben, dass mein eigenes Mobilitätsverhalten
nicht immer vorbildlich ist. Ich bin mit dem Auto gefahren, einem
Benziner. Heute habe ich eine Ausrede, denn ich musste eine schwere
Umzugskiste und ein Bild transportieren. Grundsätzlich brauche ich mit
öffentlichen Verkehrsmitteln aber eine gute Stunde für den Weg zur Arbeit,
mit dem Auto nur 20 Minuten. Wenn ich den Wagen nehme, bleibt also mehr
Zeit für die Familie. Deswegen habe ich mein Jobticket zuletzt auch nicht
mehr so häufig genutzt wie früher.

Im Sommer wurde mit dem 9-Euro-Ticket für den Umstieg auf Bus und Bahn
geworben. Nach Branchenangaben wurden rund 52 Millionen dieser Fahrscheine
verkauft. Hat die Aktion die Mobilitätswende vorangebracht?
Boden: Ja und nein. Studien haben das Projekt durchaus unterschiedlich
bewertet. Gerade neuere Ergebnisse weisen aber auf einen sehr positiven
Effekt hin. Auf der einen Seite lautete die Kritik, dass es eigentlich nur
zu zusätzlicher Mobilität geführt habe. Denn jetzt konnte man billig
irgendwohin fahren, die Autobahnen waren aber gefühlt trotzdem so voll wie
immer. Auf der anderen Seite zeigt sich aber, dass die große Nachfrage auf
ein enormes Potential hinweist. Wir dürfen allerdings nicht denken, dass
wir nur für ein paar Monate so ein Ticket einführen müssen und dann die
Mobilitätswende geschafft haben. Es dauert, bis sich das Nutzerverhalten
verändert, das ist ein langfristiger Prozess. Und wir müssen natürlich
auch das Angebot verbessern.

Was muss denn passieren, um ein Umdenken zu erreichen?
Boden: Wir müssen zunächst aufhören, die Autos bei der Planung so stark in
den Vordergrund zu stellen und stattdessen den Öffentlichen
Personennahverkehr (ÖPNV) ausbauen. Aber das ist wie die E-Mobilität nur
ein Baustein. Vor allem brauchen wir für die Zukunft dezentralere,
flexiblere Lösungen und vor allem Verkehrssysteme, die ganz stark auf die
individuellen Situationen vor Ort zugeschnitten sind. Da sehen wir ein
großes Manko.

Inwiefern?
Boden: In Städten gibt es oft ein Überangebot mit einem guten ÖPNV,
mehreren E-Roller-Anbietern, Leihfahrrädern und Ruftaxis. An der
Peripherie dagegen fehlt dieses Angebot, auch weil die Nachfrage weniger
groß ist. Das ist ein Henne-Ei-Problem, und man kann auch nicht einfach
ein irgendwo funktionierendes Konzept eins-zu-eins übertragen. Man muss
mit den Akteuren vor Ort sprechen und den jeweiligen Bedarf ermitteln. Es
gilt, Mobilität dezentral zu organisieren und zugleich gut miteinander zu
verzahnen. So kann man mit vielen Bausteinen gezielt individuelle Angebote
schaffen, die dann auch angenommen werden und funktionieren können.

Wie lange brauchen wir für die Mobilitätswende?
Boden: Das ist eine Mammutaufgabe und ein langer Prozess, der uns noch
Jahrzehnte beschäftigen wird. Sobald jemand einen konkreten Vorschlag
macht, gibt es einen, der erklärt, warum genau das nicht funktionieren
wird. Die Verkehrswende ist daher auch nicht so sehr nur eine technische
Frage, sondern eine des politischen und gesellschaftlichen Willens. Es
gibt viele gute Ideen, wie man wegkommen kann vom Pkw hin zu einem System,
das stärker auf ÖPNV, Sharing und Dezentralität ausgerichtet ist. Aber es
geht auch um unser Selbstverständnis und die Frage, welche Rolle die
Mobilität in unserem eigenen Leben spielt. Deswegen muss man mit den
Menschen ins Gespräch kommen und die Prozesse demokratisch begleiten. Wir
müssen die Mobilitätswende jetzt anpacken. Ich hoffe, dass wir dann
merken, dass die ganzen Probleme, die wir uns immer einreden, gar nicht so
riesig sind.

Inwiefern kann die H-BRS mit ihren Forschungen dazu beitragen, das Thema
voranzutreiben?
Boden: Wir möchten zunächst Möglichkeiten in der Region aufzeigen. In
unseren Projekten sammeln wir zum Beispiel Daten zum Mobilitätsverhalten
und machen diese nutzbar, um die Grundlage für flexiblere Verkehrssysteme
zu schaffen. Dafür haben wir große Projekte mit den Verkehrsbetrieben Köln
und Bonn, aber wir arbeiten auch mit den Kommunen im Umland zusammen und
entwickeln unter der Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern neue flexible
und dezentrale Konzepte. Gleichzeitig entwickeln wir auch technische
Tools, um die Umsetzung zu ermöglichen. So gibt es erste Prototypen für
ein Mobilitätsdashboard. Die Kommunen vor Ort nehmen eine Schlüsselrolle
ein und müssen die Verkehrswende am Ende stemmen. Ihnen muss man die
Werkzeuge und das Know-how für ihren individuellen Bedarf zur Verfügung
stellen. Wir hoffen, dass das dann auch Ideen und Konzepte für andere
Regionen sind, wenn es gut funktioniert.

Zur Person:
Alexander Boden ist seit dem 1. September 2020 Professor am Fachbereich
Wirtschaftswissenschaften der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und leitet dort
als Ko-Direktor das Institut für Verbraucherinformatik (IVI). Professor
Bodens Fachprofil ist durch seinen interdisziplinären Hintergrund geprägt.
Er arbeitet an Themen der angewandten Verbraucher- und Sozioinformatik zu
empirischen Untersuchungen von Techniknutzung im Arbeits- und
Privatumfeld, der Gestaltung und Einführung neuer, durch Nutzerinnen und
Nutzer anpassbarer Unterstützungswerkzeuge sowie der Erforschung der
Aneignung durch Anwenderinnen und Anwender.

Der Mobilitätstag:
Die Städte Sankt Augustin, Siegburg, Troisdorf, Königswinter sowie die
Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und der Verein „Netzwerk intelligente
Mobilität“ mit Sitz in Troisdorf laden für Freitag, 16. September 2022,
erstmals zum interkommunalem Mobilitätstag ein. Er steht unter dem Motto
„Besser verbunden in der Region“ und nimmt Bezug auf die Europäische
Mobilitätswoche, die von der Europäischen Kommission ausgerufen wurde.
Der Mobilitätstag besteht aus zwei Bereichen: In der Hochschule Bonn-
Rhein-Sieg findet von 8.30 bis 14.30 Uhr eine öffentliche Fachtagung mit
zahlreichen Vorträgen und Diskussionsveranstaltungen statt. Auf einer
Aktionsfläche auf dem Parkplatz an der Grantham-Allee in Sankt Augustin
gibt es von 10 bis 18 Uhr ein vielfältiges Angebot rund um die Mobilität
mit Informationsständen, einer vollautomatischen Fahrradwaschanlage, einem
Rennsimulator und Fortbewegungsmitteln zum Ausprobieren wie E-Bikes und
Lastenrädern.