Mit Datenwissenschaft gegen Armut
Im Januar 2021 waren die Empa und BASE («Basel Agency for Sustainable
Energy») unter den Preisträgern der prestigeträchtigen «Inclusive Growth
and Recovery Challenge» von data.org, einer Plattform, die sich für den
Einsatz von Datenwissenschaften zu sozialen Zwecken einsetzt. In ihrem
Projekt entwickelt das Team eine mobile App, die Kleinbauern im ländlichen
Indien berät, wie sie ihre frischen Lebensmittel optimal lagern und wann
sie sie verkaufen sollen. Acht Monate nach Beginn des Projekts hat das
Team Partnerschaften mit Anbietern von Kühllösungen geschlossen, Open-
Source-Daten für Indien gesammelt und digitale Zwillinge für Lebensmittel
entwickelt.
Indien ist einer der grössten Lebensmittelproduzenten der Welt.
Unzureichende Kühlmöglichkeiten und andere Engpässe in der Lieferkette
führen jedoch dazu, dass bis zu einem Drittel der produzierten
Lebensmittel verschwendet werden – ein geschätzter Verlust in
Milliardenhöhe. Nur 6% der Lebensmittel durchlaufen die Kühlkette,
verglichen mit etwa 60% in Industrieländern. Besonders problematisch ist
die Situation für Kleinbauern, die einen grossen Anteil an der
Nahrungsmittelproduktion in Indien haben. Finanzielle, technologische und
fachliche Hürden hindern diese Landwirte am Zugang zu nachhaltigen
Kühllösungen, um Lebensmittel zu retten – und ihre Existenz zu sichern.
Um diese Herausforderung zu meistern, entwickeln Empa und BASE eine frei
zugängliche, datenwissenschaftlich gestützte mobile App, die Kleinbauern
und -bäuerinnen Zugang zu nachhaltigen Kühlanlagen, zu Fachwissen vor und
nach der Ernte und zu Marktinformationen ermöglicht. Die App «Your Virtual
Cold-Chain Assistant» (YourVCCA) enthält verschiedene Dateneingaben wie
Wetter- und Klimadaten, Satellitenbilder, geografische Standortdaten,
Erträge von Frischprodukten, Daten von hygrothermischen Kühlhaussensoren,
prognostizierte Resthaltbarkeit von Produkten und Marktpreise in Echtzeit.
Durch die Ausstattung der Kleinbauern mit geeigneten Daten will das
Projekt die Ernährungssicherheit verbessern, die Einkommen der Kleinbauern
erhöhen, Lebensmittelverluste verringern und die Auswirkungen der
Lebensmittelproduktion auf das globale Klima minimieren.
Zugang zu Kühlräumen und Daten
Ein entscheidender Weg, um den Zugang von Kleinbauern zu Kühlanlagen zu
verbessern, ist die Gründung von Partnerschaften mit Anbietern von
Kühllösungen. Einer der lokalen Partner bietet Kühlungsdienste auf einem
Markt an, der von rund 500 Kleinbauern besucht wird. Im Rahmen dieses
Projekts, das als Pilotprojekt für die YourVCCA-App dient, werden
hygrothermische Daten und Nutzungsdaten gesammelt, die Aufschluss über die
optimalen Lagerbedingungen und die voraussichtliche Haltbarkeitsdauer der
Erzeugnisse geben. Ziel des Projektteams ist es, Daten zu sammeln und
diese in einer mehrschichtigen Karte Indiens zusammenzufassen, auf der die
vielversprechendsten Kühlraumlager im Land verzeichnet sind.
Gleichzeitig wird die Wirksamkeit von YourVCCA getestet, einschliesslich
eines bildbasierten maschinellen Lernmodells zur Bewertung von Früchten
nach der Ernte. Darüber hinaus entwickelt das Projektteam visuelle,
physikbasierte Zwillinge, die in Echtzeit die voraussichtliche Haltbarkeit
der gelagerten Früchte vorhersagen. «An der Empa können wir bereits
voraussagen, wie lange man ein Produkt lagern kann und wie Kleinbauern und
-bäuerinnen diese Produkte lagern sollten, damit sie möglichst lange
haltbar sind», sagt Empa-Forscher Thijs Defraeye. Diese digitalen
Zwillinge werden Landwirten und Kühldienstleistern demnächst über eine
webbasierte Plattform oder über eine mobile Version zur Verfügung
gestellt. In YourVCCA werden diese digitalen Zwillinge und ihre
Haltbarkeitsvorhersagen mit Marktpreisprognosen kombiniert, um den
Landwirten zu empfehlen, wann sie ihre Ware am besten verkaufen sollten.
«Wir haben YourVCCA als eine Art virtuellen Coach konzipiert, der den
Nutzern rät, wie sie ihre Produkte lagern sollen, wie viel von der
Qualität noch vorhanden ist und wann sie verkaufen sollten», fügt Defraeye
hinzu.
Derzeit arbeitet das Projektteam an der Architektur der Benutzeroberfläche
für YourVCCA. Die Benutzerfreundlichkeit sowohl für Kleinbauern als auch
für Betreiber von Kühlsystemen wird in den kommenden Monaten getestet.
«Die Fortschritte sind vielversprechend», so Defraeye, «wenn wir die Daten
nutzen können, können wir viel mehr Lebensmittel vor dem Verderb retten,
was sowohl den lokalen Produzenten als auch dem Klima zugutekäme. Wir alle
wissen, dass die Technologie dafür vorhanden ist, aber derzeit sind die
Lösungen nicht auf Kleinbauern zugeschnitten, da der finanzielle Anreiz
dafür einfach geringer ist als bei grösseren Agrarunternehmen.»