Die seismische Chronik einer Sturzflut
Die wissenschaftliche Beschreibung des katastrophalen Bergsturzes vom 7.
Februar 2021 im indischen Dhauli-Ganga-Tal liest sich wie ein
gerichtsmedizinischer Bericht. Ein Bergsturz und die anschließende Flut
hatten mindestens hundert Menschen getötet und zwei Wasserkraftwerke
zerstört. In der Fachzeitschrift Science vom 1.10.2021 zeichnen Forschende
des Deutschen GeoForschungsZentrums (GFZ) gemeinsam mit Kolleg*innen des
Nationalen Geophysikalischen Forschungsinstituts Indiens (NGRI) die
Katastrophe anhand der Daten eines Netzes von Seismometern Minute für
Minute nach. Dem Team zufolge könnten seismische Netzwerke genutzt werden,
um ein Frühwarnsystem für Hochgebirgsregionen einzurichten.
Obwohl der endgültige Auslöser des massiven Bergsturzes, der in einer Höhe
von mehr als 5500 Metern begann, nach wie vor ungeklärt ist, ist eines
sicher: Am Sonntag, 7. Februar 2021, um kurz vor halb elf Uhr vormittags,
begannen mehr als 20 Millionen Kubikmeter Eis und Gestein ins Tal des
Ronti Gad zu stürzen. Seismometer registrierten das Signal um 10:21 Uhr
und 14 Sekunden Ortszeit. 54 Sekunden später traf die Masse in 3730 Metern
Höhe auf den Talboden und verursachte einen Aufprall, der einem Erdbeben
der Stärke 3,8 entsprach. Im Tal mobilisierte die Mischung aus Gestein und
Eis Schutt und zusätzliches Eis, das sich - vermischt mit Wasser - als
gigantischer Murgang durch die Täler der Flüsse Ronti Gad und Rishi Ganga
wälzte. Erstautorin Kristen Cook vom GFZ schätzt, dass die Masse zunächst
mit fast 100 Kilometern pro Stunde bergab schoss; nach etwa zehn Minuten
verlangsamte sich die Bewegung auf knapp 40 Kilometer pro Stunde.
Um 10:58 Uhr und 33 Sekunden erreichte die Flut eine wichtige
Straßenbrücke bei Joshimath. Innerhalb von Sekunden stieg das Wasser dort
um 16 Meter. Dreißig Kilometer weiter unten im Tal verzeichnete die
Pegelstation Chinka einen Sprung des Wasserstandes um 3,6 Meter, und
weitere sechzig Kilometer weiter stieg der Pegel noch um einen Meter.
Auf der Grundlage der von den seismischen Stationen aufgezeichneten
Bodenerschütterungen identifizierten Forschende aus den drei GFZ-Sektionen
Geomorphologie, Erdbebengefährung und dynamische Risiken sowie Erdbeben-
und Vulkanphysik gemeinsam mit den Kolleg*innen des NGRI drei verschiedene
Phasen der Flutkatastrophe. Phase 1 war der Bergsturz und sein massiver
Aufschlag auf den Talboden. Es folgte Phase 2 mit der Mobilisierung
enormer Materialmengen – Eis, Geröll, Schlamm –, die eine verheerende Wand
aus Material bildeten, die durch ein enges und gewundenes Tal raste. In
dieser Phase blieb viel Material zurück und die Energie nahm rasch ab.
Diese Phase dauerte etwa dreizehn Minuten. Phase 3 (fünfzig Minuten Dauer)
war eher flutartig, mit gewaltigen Wassermassen, die flussabwärts flossen
und große Felsbrocken von bis zu 20 m Durchmesser mit sich führten.
Die wichtigste Erkenntnis: „Die Daten der seismischen Instrumente eignen
sich als Grundlage für ein Frühwarnsystem, das vor dem Eintreffen solcher
katastrophalen Murgänge warnt“, sagt Niels Hovius, Letztautor der Studie
in Science (1.10.2021) und kommissarischer wissenschaftlicher Vorstand des
Deutschen GeoForschungsZentrums GFZ. Ein weiterer wichtiger Punkt ist die
Verfügbarkeit eines dichten seismischen Netzes, wie es von indischen
Forschenden am Indian National Geophysical Research Institute (NGRI)
betrieben wird. Hovius' Kollegin Kristen Cook, Erstautorin der Studie,
fügt hinzu: "Die verfügbare Vorwarnzeit für Standorte in Tälern hängt von
der Entfernung und der Geschwindigkeit der Strömungsfront flussabwärts
ab." Joshimath zum Beispiel, wo der Flusspegel während des Hochwassers um
16 Meter anstieg, lag 34,6 km flussabwärts vom Erdrutsch. Kristen Cook:
"Das bedeutet, dass die Menschen in und um Joshimath etwa eine halbe
Stunde vor dem Eintreffen der Flut gewarnt worden sein könnten." Für
weiter flussaufwärts gelegene Regionen, in denen die Welle nur wenige
Minuten nach dem Erdrutsch eintraf, hätte die Zeit möglicherweise immer
noch ausgereicht, um Kraftwerke abzuschalten.
Warum also gibt es ein solches Warnsystem nicht schon lange? Fabrice
Cotton, Leiter der Sektion Erdbebengefährdung und Risikodynamik, sagt:
"Das Problem sind die unterschiedlichen Anforderungen an seismische
Messstationen, die dazu führen, dass viele Stationen in unseren weltweiten
und regionalen Erdbebennetzen weniger geeignet sind, um Felsstürze,
Murgänge oder große Überschwemmungen zu erkennen. Gleichzeitig helfen
Stationen, die Hochwasser und Murgänge in ihrer unmittelbaren Umgebung
überwachen sollen, nicht so gut bei der Erkennung von Ereignissen in der
Ferne." Die Lösung, an der die GFZ-Forschende gemeinsam mit ihren
Kolleg*innen in Indien und Nepal arbeiten, ist ein Kompromiss: An
strategisch günstigen Stellen müssten Stationen eingerichtet werden, die
das Rückgrat eines Hochgebirgs-Flutwarnsystems bilden. GFZ-Forscher Marco
Pilz: "Dieser Kompromiss ist gewissermaßen ein Optimierungsproblem, mit
dem sich künftige Studien befassen müssen und bei dem wir bereits
systematische Fortschritte gemacht haben, zum Beispiel in der
Niederrheinischen Bucht. Weitere Analysen von Sturzfluten und Murgängen
werden dazu beitragen, besser zu verstehen, wie seismische Signale bei der
Frühwarnung helfen können.“
Erste Ideen, ein solches Frühwarnsystem auf Basis eines seismologischen
Ansatzes zu etablieren, entstanden bereits vor der Katastrophe als
Ergebnis eines gemeinsamen Workshops von Helmholtz-Forschenden und
indischen Kolleg*innen in Bangalore im Frühjahr 2019. Das aktuelle Projekt
der Studie wurde von Virendra Tiwari vom NGRI und Niels Hovius initiiert.
Es nutzte die zufällige räumliche Nähe des Hochwassers zu einem regionalen
seismischen Netzwerk, das bereits vom NGRI aufgebaut worden war. Hovius:
"Die Frühwarnung wird immer dringlicher, da Gebirgsflüsse zunehmend für
die Erzeugung von Wasserkraft genutzt werden, die als Motor für die
wirtschaftliche Entwicklung der ärmsten Bergregionen der Welt gilt.“ Im
Zuge der Klimaerwärmung schwinden Gletscher rapide und es sammelt sich
viel Schmelzwasser in hochgelegenen Gletscherstauseen. Hovius mahnt:
„Katastrophale Überschwemmungen werden deshalb wahrscheinlich häufiger
werden und so werden die Risiken in Zukunft noch weiter steigen."