Die Corona-Pandemie lässt Masse und Maße der Deutschen steigen
Die Unstatistik des Monats Juli ist die Aussage, die Deutschen hätten
während der Corona-Pandemie durchschnittlich 5,6 kg Gewicht zugenommen.
Bei näherer Betrachtung zeigt sich, dass die tatsächliche Gewichtszunahme
deutlich niedriger ist und im Rahmen der statistischen Streuung liegt.
Die Unstatistik des Monats Juli ist eine Pressemeldung der Technischen
Universität München (TUM) mit dem Titel „Corona befeuert eine andere
Pandemie“ und deren Rezeption in den Medien. Mit der „anderen Pandemie“
ist das Übergewicht der erwachsenen Deutschen gemeint. „Gut fünf Kilo
haben die Deutschen im vergangenen Jahr zugenommen“, schreibt ZEIT online
und fragt besorgt: „Wie kriegen wir das wieder runter?“. Im folgenden
Interview mit vier Personal Trainern bestätigen gleich zwei davon ihren
Eindruck, dass die Deutschen auf den Straßen sichtbar dicker geworden
seien.
Inwiefern die Corona-Maßnahmen zu veränderten Lebensgewohnheiten geführt
haben, die unter anderem auch mit einer Gewichtszunahme verbunden sein
konnten, haben bereits verschiedene Studien untersucht. Für Deutschland
konnte das Robert-Koch-Institut (RKI) anhand der Studie „Gesundheit in
Deutschland aktuell“ (GEDA 2019/2020-EHIS) bei gut 23.000 bundesweit
Befragten ab 15 Jahren zwischen April 2019 und September 2020 allerdings
nur eine Gewichtszunahme von 1,1 kg finden. Heißt das, die Deutschen haben
im vergangenen Dreivierteljahr noch einmal so richtig zugelegt?
Nein, das wäre ein Trugschluss. Die 5,6 kg durchschnittliche
Gewichtszunahme, die das Marktforschungsinstitut Forsa im Rahmen einer
Studie für das Else Kröner Fresenius Zentrum für Ernährungsmedizin (EKFZ)
an der TUM erfragt hat, beziehen sich nur auf diejenigen Befragten, die
zugenommen haben. Es handelt sich also um einen bedingten Mittelwert. 11
Prozent haben im Schnitt 6,4 kg abgenommen und 48 Prozent gaben an, in der
Pandemie ihr Gewicht gehalten zu haben. Errechnet man daraus den
Gesamtdurchschnitt, so ergibt sich eine Zunahme von knapp 1,5 kg. (Die
Ergebnispräsentation zur Studie erwähnt übrigens „nur“ 5,5 kg als
durchschnittliches Mehrgewicht bei den Befragten, die zugenommen haben.)
Die Behauptung auf ZEIT online ist also klar falsch. Auch die Beiträge von
mdr.de („Die Befragten gaben an, seit Beginn der der Pandemie im Schnitt
um 5,6 Kilogramm zugenommen zu haben.“), Sonntagsblatt („5,6 Kilo haben
die Deutschen laut einer neuer Studie der TU München während der Corona-
Pandemie zugenommen.“) und der Passauer Neuen Presse („5,5 Kilo mehr: Wie
Corona die Deutschen dick gemacht hat“) berichten zumindest irreführend.
Daran dürfte allerdings die Pressemitteilung der TUM nicht ganz unschuldig
sein. Dort heißt es: „Im Durchschnitt liegt die Gewichtszunahme bei 5,6
Kilo.“, ohne den Hinweis darauf, dass dies lediglich der Durchschnitt
derjenigen Befragten ist, die überhaupt zugenommen haben. Immerhin
berichteten zahlreiche andere Medien korrekt und (nahezu) wortgleich:
„Demnach haben rund 40 Prozent der Befragten seit Corona an Gewicht
zugelegt – im Durchschnitt 5,6 Kilogramm.“
Schwerwiegende Erkenntnis: Wer schon viel wiegt, nimmt auch häufiger zu
Der TUM-Studie zufolge lassen sich allerdings auch einige Zusammenhänge
identifizieren. „Je höher der Body-Mass-Index (BMI) der Befragten, desto
häufiger geben sie an, dass sie seit Beginn der Pandemie zugenommen
haben.“ Dies besagt nichts anderes, als dass man mit einem relativ hohen
Gewicht in der Vergangenheit eine Gewichtszunahme in der Zukunft gut
vorhersagen kann. Dies ist so wenig überraschend wie der gefundene
Zusammenhang zwischen seelischer Belastung und „mehr essen“. Ob die
Befragten aber mehr essen, weil sie sich belastet fühlen, oder ob sie
dadurch belastet sind, dass sie zunehmen, das kann man durchaus
hinterfragen.
Überhaupt ist das mit Statistiken zu den deutschen Maßen (oder auch
Massen) keine ganz einfache Angelegenheit. Im August 2018 wie schon im
November 2014 veröffentlichte das Statistische Bundesamt auf der
Zahlenbasis von 2017 einen Sonderbericht, dem zufolge insgesamt knapp 53
Prozent der erwachsenen Bevölkerung übergewichtig waren. Getrennt nach
Geschlecht, waren es gut 62 Prozent der Männer und gut 43 Prozent der
Frauen. Die Zahlen entstammen einer Zusatzbefragung zum Mikrozensus.
Erfragt wurden Größe und Gewicht, aus denen sich dann der Body Mass Index
als Maßstab für Unter-, Normal- bzw. Übergewicht berechnen lässt. Offenbar
hat die Masse der Deutschen erheblich zugenommen. Denn im Jahr 2013 waren
etwas mehr als 52 Prozent der Befragten übergewichtig, im Jahr 1999 „nur“
knapp 48 Prozent. Die Männer sind übrigens durchgehend häufiger
übergewichtig, zumindest nach dem Kriterium eines Body Mass Index (BMI),
der über der Schwelle von 25 liegt.
Der BMI errechnet sich als das Körpergewicht in kg, geteilt durch die
quadrierte Körpergröße in Metern. Das klingt nach einer etwas merkwürdigen
Formel, die man sich aber gut veranschaulichen kann: Leonardo da Vinci hat
das berühmte Bild vom „vitruvianischen Menschen“ gezeichnet, dem Mann, der
mit ausgetreckten Armen und Beinen in einem Kreis steht. Nun steht die
Kreisfläche im quadratischen Verhältnis zum Radius und ein Würfel von 1 kg
Wasser, aus dem wir Menschen größtenteils bestehen, hat eine Kantenlänge
von 10 cm oder 0,1 m. Der BMI ist also ungefähr die Höhe (oder Dicke), die
ein menschlicher Körper im Durchschnitt hat, wenn man ihn flach auf den
Boden legt – grob gesagt also, wie weit der Bauch im Liegen nach oben
ragt.
Der BMI ist nicht unumstritten und die Befragten sind nicht immer ehrlich
Die Deutschen werden also im Zeitverlauf immer dicker oder zumindest
schwerer. Jedoch ist der BMI nicht unumstritten; schließlich wiegen
Muskeln mehr als Fett, so dass manche sehr sportlichen Menschen nach
diesem einfachen Kriterium fälschlicherweise als übergewichtig eingestuft
werden. Doch es scheint schon schlimmer gewesen zu sein, wenn man auf eine
weitere nationale Befragung blickt: die Nationale Verzehrsstudie II (NVS
II), deren Daten 2005/06 erhoben wurden. Demnach waren vor 15 Jahren
bereits 58 Prozent aller Deutschen übergewichtig. 66 Prozent der Männer
und 51 Prozent der Frauen brachten damals zu viel auf die Waage. Laut
einer weiteren RKI-Studie auf Basis der GEDA 2014/2015-EHIS waren es vor
fünf Jahren aber nur noch 54 Prozent insgesamt, knapp 47 Prozent der
Frauen und knapp 62 Prozent der Männer. Wie kann das sein?
Ein Teil der Veränderung, die das Statistische Bundesamt im Mikrozensus
misst, lässt sich zumindest demografisch erklären. Bei den 70- bis
74-Jährigen sind nämlich fast drei Viertel der Männer und knapp drei von
fünf Frauen übergewichtig, bei den 20- bis 24-Jährigen jeder dritte Mann
und knapp jede fünfte Frau. Wenn die Bevölkerung altert und Menschen mit
dem Alter zunehmen (aber dabei üblicherweise nicht wachsen, sondern eher
schrumpfen), dann sind statistisch gesehen mehr Übergewichtige dabei.
Das eigentlich Aufschlussreiche ist der Unterschied zwischen Mikrozensus,
GEDA-Studie, TUM-Befragung und Nationaler Verzehrsstudie. Im den ersten
drei Untersuchungen wurden die Leute befragt, wie viel sie wiegen, in der
Verzehrsstudie wurden sie gewogen und gemessen. Interessant ist dabei,
dass die Verzehrsstudie ein wesentlich größeres Problem der
Übergewichtigkeit in Deutschland aufzeigt als die Befragungsstudien.
Deswegen sagen die Zahlen womöglich weniger darüber aus, wie sich das
Gewicht der Deutschen verändert hat, sondern vielmehr darüber, wie Männer
und Frauen bei Befragungen gleichermaßen lügen, wenn es um ihr Gewicht
geht. Ein Blick auf die reinen Befragungsdaten lässt die Ergebnisse der
TUM zudem wesentlich weniger spektakulär erscheinen: Eine
Gewichtsschwankung von weniger als 1,5 kg entspricht einer BMI-Veränderung
von weniger als einem halben Punkt. Das liegt im Rahmen der statistischen
Streuung.
Ansprechpartner/in:
Katharina Schüller (STAT-UP), Tel.: (089) 34077-447
Sabine Weiler (Kommunikation RWI), Tel.: (0201) 8149-213
Mit der „Unstatistik des Monats“ hinterfragen der Berliner Psychologe Gerd
Gigerenzer, der Dortmunder Statistiker Walter Krämer, die STAT-UP-
Gründerin Katharina Schüller und RWI-Vizepräsident Thomas K. Bauer jeden
Monat sowohl jüngst publizierte Zahlen als auch deren Interpretationen.
Alle „Unstatistiken“ finden Sie im Internet unter www.unstatistik.de und
unter dem Twitter-Account @unstatistik.
Unstatistik-Autorin Katharina Schüller ist zudem Mit-Initiatorin der „Data
Literacy Charta“, die sich für eine umfassende Vermittlung von
Datenkompetenzen einsetzt. Die Charta ist unter www.data-literacy-
charta.de abrufbar.
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