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Hochwasserrisiken wurden deutlich unterschätzt

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Abschätzung der überfluteten Fläche (> 75 % betroffene Fläche) für den Kreis Ahrweiler, besonders entlang der Ahr. (Abbildung: Andreas Schäfer, CEDIM/KIT) Andreas Schäfer CEDIM/KIT

Um Hochwassergefahren besser einschätzen zu können, sollen Gefahrenkarten
historische Daten einbeziehen. Dafür plädieren Forschende am CEDIM –
Center for Disaster Management and Risk Reduction Technology des
Karlsruher Instituts für Technologie (KIT). Das CEDIM hat einen ersten
Bericht zur Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
vorgelegt. Was die Rolle des Klimawandels betrifft, birgt die Kombination
aus mehr verfügbarem Wasser in der Atmosphäre und einer zunehmenden
Beständigkeit von Großwetterlagen ein steigendes Potenzial für extreme
Niederschlagsereignisse.

Die Hochwasserkatastrophe in der vergangenen Woche hat in Deutschland mehr
als 170 Todesopfer gefordert (Stand: 21. Juli 2021). Immer noch werden
Menschen vermisst. Die Schäden an Gebäuden und Infrastruktur lassen sich
erst grob bestimmen und gehen in die zweistelligen Milliarden – davon
allein mindesten zwei Milliarden Euro für Verkehrsinfrastrukturen.
Inzwischen hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft
e.V. (GDV) den versicherten Schaden auf vier bis fünf Milliarden Euro nur
in Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen geschätzt. Wie kam es zu den
Überflutungen, die vor allem Rheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen
betrafen? Wie lassen sich Hochwassergefahren – besonders seltene, extreme
Ereignisse – vorab besser abschätzen? Mit diesen Fragen hat sich die
Forensic Disaster Analysis (FDA) Group des CEDIM befasst und einen ersten
Bericht vorgelegt.


Wie die Forschenden erläutern, führten enorme Niederschlagsmengen dazu,
dass beispielsweise der Pegel an der Ahr (Altenahr) seinen bisherigen
Rekord von 2016 (3,71 Meter, Abfluss: 236 m³/s) deutlich überstieg.
Überflutungsbedingt fiel die Messstation bei einem Wert von 5,05 Metern
(Abfluss: 332 m³/s) allerdings aus. Das Landesamt für Umwelt Rheinland-
Pfalz kalkulierte aus Modellrechnungen für die Katastrophennacht einen
Pegel von bis zu sieben Metern, basierend darauf schätzten die Expertinnen
und Experten einen Abfluss zwischen 400 bis 700 m³/s ab.


Mehrere Faktoren führten zu den extrem hohen Niederschlagssummen

Aus meteorologischer Perspektive führten verschiedene Faktoren zu den
extrem hohen Niederschlagssummen. „Innerhalb von 48 Stunden fiel in Teilen
von Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz mehr Regen, als dort
üblicherweise im gesamten Monat Juli niedergeht; der Hauptanteil ging
sogar innerhalb von nur rund zehn Stunden nieder“, berichtet CEDIM-
Sprecher Professor Michael Kunz. Außerdem verstärkte das stark gegliederte
Gelände der betroffenen Regionen, besonders im Landkreis Ahrweiler, mit
teils tief eingeschnittenen Flusstälern den Oberflächenabfluss. Der
bereits annähernd gesättigte Boden durch teils kräftige Niederschläge in
den vorangegangenen Tagen verschärfte die Situation zusätzlich.

Um die Überflutungsflächen in den am schwersten betroffenen Gebieten Kreis
Ahrweiler und Rhein-Erft-Kreis abzuschätzen, kombinierte das
Forschungsteam Satellitendaten mit Luftaufnahmen von (Amateur-)Drohnen und
Helikoptern sowie Fotos aus sozialen Medien. Nach diesen geschätzten
Überflutungsflächen befinden sich in den betroffenen Gebieten knapp über
19 000 Gebäude mit einem Wert von rund neun Milliarden Euro. In Verbindung
mit empirischen Daten vergangener Hochwasserkatastrophen
(Infrastrukturschäden, Elementarschäden und andere Schäden) schätzten die
Forschenden einen Gesamtschaden zwischen elf und 24 Milliarden Euro (erste
CEDIM-Schätzung: 21. Juli 2021). Dabei ist allerdings zu berücksichtigen,
dass die Überflutungsflächen nur einen Teil der gesamten betroffenen
Fläche ausmachen.


Mehr verfügbares Wasser in der Atmosphäre und zunehmende Beständigkeit von
Großwetterlagen steigern Gefahr

Ob ein einzelnes Extremereignis oder die Abfolge mehrerer Extreme bereits
auf den Klimawandel zurückzuführen sind, lässt sich nach Aussage der
Karlsruher Katastrophenforschenden weder exakt belegen noch komplett
verneinen, besonders wenn es um Ereignisse auf kurzen Zeit- und Raumskalen
geht, die stark von lokalen Faktoren beeinflusst sind. Für die
großräumigen Prozesse in der Atmosphäre, die zur Entstehung von
Extremereignissen führen, gilt jedoch: Die Kombination aus mehr
verfügbarem Wasser in der Atmosphäre infolge der Temperaturzunahme und
einer zunehmenden Beständigkeit von Großwetterlagen mit einem sich
tendenziell nach Norden verlagerndem Jetstream, dem Starkwindband in der
oberen Troposphäre, birgt ein hohes Gefahrenpotenzial. „Da für diese drei
Faktoren ein positiver Trend zu erwarten ist, wird auch das Potenzial für
extreme Niederschlagsereignisse in Zukunft zunehmen“, erklärt Kunz.


Bereits 1804 und 1910 bedeutende Hochwasserereignisse im Ahrtal

„Im Ahrtal gab es bereits in der Vergangenheit zwei besonders bedeutende
Hochwasserereignisse, nämlich 1804 und 1910. Ein Vergleich mit
historischen Aufzeichnungen lässt annehmen, dass die diesjährigen Werte
allerdings niedriger einzuordnen sind als die von 1804“, sagt der
stellvertretende CEDIM-Sprecher Dr. James Daniell. Für das
Hochwasserereignis von 1804 wurde der Abfluss von der Universität Bonn
bereits auf ca. 1 100 m³/s geschätzt. Das diesjährige Ereignis könnte
hydrologisch betrachtet ein ähnliches Ausmaß wie das von 1910 mit einem
Abfluss von 500 m³/s gehabt haben. „Die aktuellen Hochwasserkarten für das
Ahrtal basieren derzeit auf einer Abflussstatistik mit Daten seit 1947, da
seit diesem Zeitpunkt homogene Messreihen zur Verfügung stehen. Dadurch
werden die beiden historischen Ereignisse bei der Gefährdungsabschätzung
bisher jedoch nicht berücksichtigt“, sagt Dr. Andreas Schäfer, Erstautor
des Berichts. So liegt die aktuelle Schätzung eines hundertjährlichen
Hochwassers als Bemessungsgrundlage für den Hochwasserschutz für die Ahr
bei 241 m³/s.


Die FDA Group des CEDIM plädiert dringend dafür, in Hochwasser-
Gefahrenkarten historische Daten einbeziehen, auch aus der Zeit vor der
kontinuierlichen Messaufzeichnung, um Hochwassergefahren besser abschätzen
zu können. „Zwar müssen wir bei den Analysen und Interpretationen der
Daten grundsätzlich beachten, dass sich sowohl Infrastrukturen als auch
Hochwasserschutzmaßnahmen in den vergangenen Jahren verändert haben. Daher
lassen sich die Messwerte direkt schwerer vergleichen, und wir sollten uns
weniger auf die Pegelstände fokussieren“, erklärt Daniell. „Wir können die
Pegelstände von 1804 und 1910 als indirekte Anzeiger heranziehen, um
Hochwasserjahre zu identifizieren. Messwerte zum Abfluss, über die
zeitliche Entwicklung und über die Niederschlagsummen sind für die
Interpretation jedoch wichtiger. Letztendlich sollten aber beide
historische Größen – Pegel und Abfluss – beim Erstellen von Gefahrenkarten
einbezogen werden.“ (or)

Kontakt für diese Presseinformation:

Sandra Wiebe, Pressereferentin, Tel.: +49 721 608-41172, E-Mail:
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Erhalt unserer natürlichen Lebensgrundlagen. Das KIT ist eine der
deutschen Exzellenzuniversitäten.

Originalpublikation:
Andreas Schäfer, Bernhard Mühr, James Daniell, Uwe Ehret, Florian Ehmele,
Katharina Küpfer, Johannes Brand, Christina Wisotzky, Jens Skapski, Lukas
Renz, Susanna Mohr, Michael Kunz: Hochwasser Mitteleuropa, Juli 2021
(Deutschland). Bericht Nr. 1 „Nordrhein-Westfalen & Rheinland-Pfalz“.
CEDIM Forensic Disaster Analysis (FDA) Group. KIT, 2021. DOI:
10.5445/IR/1000135730

https://www.cedim.kit.edu/download/FDA_HochwasserJuli2021_Bericht1.pdf

https://publikationen.bibliothek.kit.edu/1000135730