Wenn das Gedächtnis nachlässt: ambulante Unterstützungsangebote zu wenig und zu spät genutzt
Neue Studie des Digitalen Demenzregisters Bayern
Hausärztliche Versorgung, hauswirtschaftliche Hilfen oder die
Inanspruchnahme einer Tagespflege: Lässt das Gedächtnis nach oder fällt
zuhause die Orientierung immer schwerer, steigt der Bedarf an
Unterstützung, um die Aufgaben des täglichen Lebens wie etwa Einkaufen
oder Körperpflege zu meistern.
Menschen mit leichten kognitiven
Beeinträchtigungen nutzen dabei ambulante Unterstützungsangebote seltener
als Menschen, die von einer leichten bis mittelschweren Demenz betroffen
sind – die Unterschiede sind jedoch gering. Zu diesem Ergebnis gelangten
Forschende des Digitalen Demenzregisters Bayern (digiDEM Bayern) an der
Friedrich-Alexander-Universitä
Gegenüber Menschen mit einer leichten bis mittelschweren Demenz ist bei
Menschen mit leichten kognitiven Beeinträchtigungen (Mild Cognitive
Impairment, MCI) der kognitive Abbau weniger ausgeprägt. Alltägliche
Tätigkeiten – wie etwa einkaufen, sich der Körperpflege widmen oder
Bankgeschäfte zu erledigen – können Menschen mit MCI aufgrund der nur
leichten kognitiven Einschränkungen weitgehend selbstständig bewältigen.
Allerdings entwickelt sich bei etwa 70 Prozent der Menschen mit MCI
innerhalb von fünf Jahren eine Alzheimer-Demenz – was einen erhöhten
Bedarf an Unterstützung nach sich zieht. Da die meisten Menschen mit MCI
oder Demenz zu Hause von ihren An- und Zugehörigen versorgt werden,
bedeutet dies für die Pflegenden eine stetig steigende Belastung.
Erste Anzeichen von kognitiven Beeinträchtigungen nicht ignorieren
Daher ist es wichtig, die Versorgungssituation bei Menschen mit MCI
langfristig zu berücksichtigen. Manche Unterstützungsangebote richten sich
auch direkt an pflegende An-und Zugehörige, wie zum Beispiel
Beratungsangebote oder die sogenannte Verhinderungspflege. „Oft suchen
sich Betroffene erst dann Unterstützung, wenn die Belastung durch die
häusliche Pflegesituation bereits stark ausgeprägt ist“, sagt Anne Keefer,
Erstautorin der Studie und wissenschaftliche Mitarbeiterin bei digiDEM
Bayern. Deshalb sollten Betroffene bereits bei ersten kognitiven
Beeinträchtigungen möglichst rechtzeitig über die verschiedenen
Möglichkeiten ambulanter Unterstützungsangebote informiert werden.
Fehlende Verfügbarkeit und Angst vor Stigmatisierung
Die bisherige Forschung befasste sich hauptsächlich damit, inwiefern
Menschen mit Demenz und deren An- und Zugehörige ambulante
Unterstützungsangebote in Anspruch genommen haben. „Wir wissen aber wenig
darüber, welche Angebote Menschen mit MCI und ihre Angehörigen tatsächlich
nutzen“, weiß Anne Keefer. In der Studie fanden Anne Keefer und ihre
Kollegen heraus: Sowohl Menschen mit MCI als auch Menschen mit Demenz
nutzen am häufigsten die Unterstützungsangebote „Hausärztliche Versorgung“
(54,4 Prozent), „Hauswirtschaftliche Hilfen“ (36,5 Prozent) „Ambulante
Pflege“ (30,4 Prozent) und „Psychosoziale Interventionen“ (30,2 Prozent).
Insgesamt ist die Inanspruchnahme von ambulanten Unterstützungsangeboten
eher gering.“ Die Gründe dafür können vielfältig sein. „Die Betroffenen
könnten bislang kaum Unterstützungsbedarf haben“, sagt Anne Keefer. „Aber
auch die fehlende Verfügbarkeit von Unterstützungsangeboten, ein
mangelndes Wissen, dass es solche Angebote überhaupt gibt, Angst vor
Stigmatisierung, Fragen der Finanzierung oder persönliche Werte und
Überzeugungen können dazu führen, dass trotz eines vorhandenen Bedarfs
Unterstützung nicht in Anspruch genommen wird.“
Unterschiede bei der Inanspruchnahme
Die Ergebnisse zeigen außerdem, dass Menschen mit MCI vier von dreizehn
betrachteten Unterstützungsleistungen seltener in Anspruch nehmen als
Menschen mit leichter bis mittelschwerer Demenz. So nutzen Menschen mit
MCI seltener die Unterstützungsangebote „ambulante Pflegedienste“,
„Tagespflege“ und „Verhinderungspflege“ und erwerben seltener
„Hilfsmittel“ wie etwa Geh-, Hör- oder Sehhilfen. Alle anderen
untersuchten ambulanten Unterstützungsangebote werden von Menschen mit MCI
und leichter bis mittelschwerer Demenz zu gleichen Anteilen genutzt, dazu
gehören unter anderem „Ambulante Pflegedienste“, „Hauswirtschaftliche
Hilfen“ oder auch „Alternative Wohnformen“.
Überraschendes Ergebnis
In einer weiteren Analyse haben die FAU-Forschenden nicht mehr nur die
einzelnen Unterstützungsangebote, sondern die Gesamtanzahl der genutzten
Angebote betrachtet. Zusätzlich wurden neben der Gruppenunterscheidung
“MCI vs. Demenz” auch andere Faktoren wie Alter, Geschlecht, Wohnort,
Bildungsgrad, Schwerbehinderung oder auch das Vorhandensein eines
Pflegegrads berücksichtigt. So wurden im Durchschnitt etwa zwei ambulante
Unterstützungsangebote innerhalb der letzten 30 Tage genutzt, wobei auch
hier Menschen mit MCI insgesamt durchschnittlich weniger Angebote als
Menschen mit leichter bis moderater Demenz genutzt haben. „Dieses Ergebnis
hat uns überrascht, denn man würde erwarten, dass Menschen mit MCI einen
deutlich geringeren Unterstützungsbedarf als Menschen mit einer leichten
bis mittelschweren Demenz haben“, erläutert Prof. Dr. Elmar Gräßel, Co-
Autor und Projektleiter von digiDEM Bayern. Um diese unerwarteten
Studienergebnisse zu erklären, haben die Forschenden weitere mögliche
Einflussfaktoren untersucht.
Pflegegrad als wesentlicher Faktor
„Vor allem das Vorhandensein eines Pflegegrads steht in besonders starkem
Zusammenhang mit der Nutzung von ambulanten Unterstützungsangeboten“, weiß
die Gerontologin Anne Keefer. Ein Grund dafür könnte das umfassende
Beratungsangebot sein, dass der Medizinische Dienst Bayern im Rahmen
seiner Begutachtungen zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit und von
Leistungsansprüchen bei gesetzlich Versicherten vorhält. „Wer einen
Pflegegrad erhalten hat, kann je nach Pflegegrad mit finanzieller Hilfe
für Unterstützungsleistungen rechnen“, sagt Co-Autor und digiDEM Bayern-
Projektleiter Prof. Dr. Peter Kolominsky-Rabas.
Die Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten hängt aber nicht nur mit
den kognitiven Fähigkeiten in Zusammenhang. Zu den weiteren Faktoren, die
dazu beitragen, gehören ein höheres Alter, weiblichen Geschlechts zu sein,
allein zu leben und eine subjektiv als gering empfundene Lebensqualität.
Frühzeitige Unterstützung ist wichtig
Bei ersten Symptomen kognitiver Einschränkungen sollte, so die
Forschenden, der Fokus insbesondere auf Angeboten zur Beratung und
Unterstützung liegen. Angebote zur Pflege und Betreuung werden erst mit
dem Fortschreiten der Erkrankung immer wichtiger. „Wir empfehlen, sich
rechtzeitig über ambulante Unterstützungsangebote zu informieren und die
Zugangswege zu Unterstützungsangeboten zu erleichtern, um die Versorgung
von Menschen mit MCI und Demenz zu verbessern und die Belastung pflegender
An- und Zugehöriger möglichst gering zu halten“, sagt Prof. Dr. Peter
Kolominsky-Rabas.
Über die Studie
Die digiDEM Bayern-Studie umfasste die Teilnahme von 913 Personen mit
kognitiven Beeinträchtigungen, deren Daten im Demenzforschungsprojekt
digiDEM Bayern erhoben wurden. Von diesen hatten 389 MCI und 524 eine
leichte bis moderate Demenz. Insgesamt wurden dreizehn
Unterstützungsangebote des Fragebogens „The Dementia Assessment of Service
Needs (DEMAND)“ betrachtet. Der Online-Fragebogen digiDEM Bayern DEMAND®
hilft pflegenden An- und Zugehörigen, die eigenen Versorgungsbedarfe zu
erkennen und wurde hauptverantwortlich von Dr. Nikolas Dietzel,
wissenschaftlicher Mitarbeiter bei digiDEM Bayern, entwickelt.
Direkt zur Studie:
https://journals.sagepub.com/e
Zum Online-Fragebogen digiDEM Bayern DEMAND®:
https://digidem-bayern.de/digi