Gemeinsam vom Flatterstrom zur Freiheitsenergie
In der Diskussion um russische Gaslieferungen werden die oft als
„Flatterstrom“ abgewerteten erneuerbaren Energien nun zur
„Freiheitsenergie“. Aber wie können Verbraucherinnen und Verbraucher diese
zukunftsorientierten Energien nutzen und fördern, ohne gleich eine eigene
Solaranlage zu installieren oder spezielle Ökostromverträge abzuschließen?
Eine Forschergruppe am Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule Trier
präsentiert eine Möglichkeit, den aktuellen Anteil an Freiheitsenergie aus
der heimischen Steckdose zu visualisieren und elektrische Verbraucher nur
dann zu aktivieren, wenn genügend erneuerbare Energien im bundesdeutschen
Strommix vorhanden sind. So können wir als Gemeinschaft schon jetzt dafür
sorgen, dass vorhandener klimaneutraler Strom effizient genutzt und die
Abhängigkeit von importiertem Gas und Öl sofort reduziert wird.
Im letzten Jahr wurden mehr als 41 Prozent des bundesweiten Strombedarfs
durch erneuerbare Energien gedeckt. Ein beachtlicher Anteil, der jedoch
noch deutlich höher ausfallen könnte, wäre da nicht das fluktuierende
Angebot der grünen Energiequellen. An Sonnentagen und wenn Wind in
ausreichender Menge vorhanden ist, kann das Angebot den aktuellen Bedarf
aller Privathaushalte und der Industrie heute durchaus schon
überschreiten. Dann wird die überschüssige Energie über den
länderübergreifenden Verbund ins Ausland exportiert und erzielt dabei auch
einmal negative Preise, das heißt, große Verbraucher werden für die
Abnahme sogar bezahlt. Nachts oder bei Windstille dagegen müssen fossil
betriebene Backup-Kraftwerke den regenerativen Strom ersetzen, weshalb
einige Akteure bisher abschätzig von „grünem Flatterstrom“ sprechen.
Die Balance dieses Wechselspiels aus Angebot und Nachfrage ist Aufgabe der
großen Netzbetreiber. Die dazu nötige Regelenergie stammt zum großen Teil
aus schnell reagierenden Gaskraftwerken. Aber spätestens seit dem
Kriegsbeginn in der Ukraine fragen sich Millionen Haushalte im Lande: Was
kann ich persönlich tun, um die regenerativen Energien besser zu nutzen
und den Import von fossilen Energieträgern zu minimieren. Wie können wir
uns einbringen, ohne dabei allzu große Komforteinschränkungen zu
verzeichnen?
Eine wichtige Antwort darauf ist die dezentrale Eigennutzung von
Photovoltaik, sei es in Form einer Solaranlage auf dem Hausdach, oder in
Form eines Balkonkraftwerks auf der Terrasse oder Garage. Abgesehen von
aktuellen Lieferproblemen sind dazu jedoch größere Investitionen
erforderlich. Außerdem hat nicht jeder Platz und Gelegenheit zum
Aufstellen der erforderlichen Solarmodule. Was uns darüber hinaus bleibt,
ist die Unterstützung der bereits installierten Anlagen durch Abschluss
spezieller Ökostromverträge. Hierzu bieten die Energieversorger
entsprechende Verträge an und verpflichten sich, den jeweiligen Haushalt
mit „grünem“ Strom zu beliefern.
Aus dem MINT-Unterricht (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und
Technik) in der Schule weiß man allerdings, dass der Strom aus der
Steckdose auch beim zertifizierten Ökostromtarif physikalisch aus einem
Mix von regenerativen und fossilen Energien besteht.
Die Webseite des Umwelt-Campus macht Freiheitsenergie sichtbar
Warum nicht auf den aktuellen Mix schauen und regenerative Energien
zeitgenau dann nutzen, wenn sie ausreichend vorhanden sind? Genau das ist
seit langem die Idee des „Smart Grid“, oder intelligenten Stromnetzes. Nur
entsprechende Tarife der Energieversorger, die auf ein wechselndes
Stromangebot reagieren und smarte Haushaltsgeräte, die dann automatisch
schalten, lassen bisher noch auf sich warten.
Hier möchte die Forschergruppe des Umwelt-Campus Birkenfeld der Hochschule
Trier (UCB) ansetzen und bietet auf ihrer Homepage allen Haushalten die
Möglichkeit, den aktuellen Anteil der regenerativen Energien aus der
heimischen Steckdose live zu beobachten. Denn der erste Schritt zur
Autarkie und zum eigenverantwortlichen Handeln in der Gesellschaft ist das
Wissen um die aktuelle Situation: https://freiheitsenergie.umwel
campus.de.
Gleichzeitig bietet die Webseite eine Vorhersage zur Abschätzung der
kurzfristigen Entwicklung. Prognostiziert das Modell einen höheren Anteil
regenerativer Energie, dann lohnt sich vielleicht das Verschieben der
Wäsche oder des geplanten Ladevorgangs, bis bessere Bedingungen herrschen.
Hier findet sicher jeder seinen Lieblingsverbraucher, sei es
Wäschetrockner, Geschirrspüler oder Elektromobil. Im Falle des Smartphones
oder e-Bike sind das nur wenige Wattstunden, die aber in Summe von
Millionen Haushalten durchaus helfen können, den aktuellen Bedarf an
fossilen Energieträgern signifikant zu reduzieren. „Kaum zu glauben, dass
diese Möglichkeiten in der Praxis bisher so wenig genutzt werden“ meint
Stefan Naumann, Professor für Nachhaltigkeitsinformatik am Umwelt-Campus
und Mitentwickler des „Blauen Engels“ für Software.
Die IoT2 - Werkstatt macht vorhandene Geräte fit für Freiheitsenergie
Im Zuge einer gemeinwohlorientierten Digitalisierung und dem Engagement in
der Gesellschaft geht sogar noch mehr: Grundlage bildet das Internet der
Dinge (IoT), die künstliche Intelligenz und ein Open Source-Werkzeugkasten
zur Programmierung, den der Umwelt-Campus gemeinsam mit der Expertengruppe
IoT im nationalen Digitalgipfel und Makern aus der ganzen Welt entwickelt
hat.
„Mit diesem Werkzeugkasten konnten wir in den letzten Monaten viele
innovative Ideen realisieren, von der CO₂-Ampel im Klassenzimmer, über den
Pegelmesser bei Starkregenereignissen, bis jetzt zur intelligenten
Steckdose. Alles digitale Ideen Made in Germany, die unsere
gesellschaftliche Resilienz stärken, spielerisch einfach umsetzbar sind
und uns nebenbei noch schlau machen“ sagt Professor Klaus-Uwe Gollmer,
einer der Initiatoren der ursprünglich als Bildungsprojekt für Schulen
entwickelten IoT2-Werkstatt.
Der Anteil einzelner Energiequellen am bundesdeutschen Strommix wird schon
jetzt laufend von der Bundesnetzagentur überwacht und ist über deren
Marktdatenschnittstelle verfügbar. Diese Informationen werden am UCB in
Echtzeit aufbereitet und stehen neben der Webseite für Menschen nun auch
in einer IoT-Cloud für Maschinen und (Haushalts-)Geräte zur freien
Verfügung.
Denn in fast jedem Haushalt gibt es heute intelligente, d.h. schaltbare
Steckdosen, die einen elektrischen Verbraucher bequem vom Sofa aus steuern
lassen (Smart-Home). Hier setzt die IoT2-Werkstatt an: Ein einfacher
Algorithmus verknüpft die Informationen über das aktuelle Angebot mit der
Steuerung der Steckdosen. Das Ganze funktioniert praktisch wie in einem
Kochrezept:
Wenn mehr als 60 % der Energie regenerativ produziert wird, dann lade mein
an die Steckdose angeschlossenes e-Bike.
Oder
Wenn weniger als 30 % der Energie regenerativ produziert wird und mein
Balkonkraftwerk auch keinen Überschuss liefert, dann schalte die
Klimaanlage aus.
So ein Algorithmus wird ähnlich wie beim Puzzle zusammengesteckt und auf
einem energieeffizienten Mikrocomputer ausgeführt. Die an der Steckdose
angeschlossenen Altgeräte erfahren dabei automatisch einen Retrofit in
Sachen Freiheitsenergie und können so noch viele Jahre im intelligenten
Energienetz mitspielen. Im Sinne der Nachhaltigkeit ist dies ein weiterer
wichtiger Beitrag zur Ressourcenschonung.
Angesichts der starren Tarife der Energieversorger wirkt das Upgrade
leider noch nicht direkt im Portemonnaie des Endverbrauchers. Aber jeder
Kubikmeter Erdgas, jedes Kilogramm Kohle zählt. Hat die Nachfrage,
insbesondere bei angespannten Weltmarkt, doch sehr wohl Auswirkung auf den
Preis, der sich dann indirekt über die Kosten der Wohnungsheizung doch im
nächsten Winter wieder im Haushalt bezahlt macht.
„Im Falle von größeren Verbrauchern, zum Beispiel bei der Aufladung des
Elektroautos oder der Warmwasserbereitung der Wärmepumpenheizung sehen wir
sehr viel Potenzial“ meint Henrik te Heesen, Professor für Erneuerbare
Energien am Umwelt-Campus und Hochschul-Vizepräsident für Forschung.
Nutzen wir die Schwarmintelligenz der Tüftler
Bei den vielfältigen Anwendungsmöglichkeiten, die sich aus der
vorgestellten Lösung ergeben, sind Deutschlands Tüftler gefragt. An vielen
Orten entstehen bereits öffentliche Makerspaces und Innovationslabore, die
eine fächerübergreifende Zusammenarbeit verschiedener Disziplinen und
Akteure aus allen Teilen der Gesellschaft fördern. Der Umwelt-Campus
bietet neben dem Innovationslabor INNODIG Bachelorstudiengänge zur
Angewandten Informatik und Künstlichen Intelligenz, zur Umweltinformatik
und auch für Erneuerbare Energien. Die intelligente
„Freiheitsenergie“-Steckdose ist nur eines der spannenden Themen im
breiten Portfolio der angewandten Forschungsprojekte am Campus.
Hintergrund
Der Umwelt-Campus Birkenfeld ist Teil der Hochschule Trier und bündelt
Forschung und Lehre zu MINT-Themen mit Fokus auf Digitalisierung und
Nachhaltigkeit. Hier arbeiten Studierende der Informatik und der
Ingenieurwissenschaften gemeinsam mit den Lehrenden an der Lösung
drängender gesellschaftlicher Fragestellungen. Der Umwelt-Campus belegt im
internationalen Wettbewerb GreenMetric Platz 6 von über 900 Hochschulen
und Universitäten und ist damit Deutschlands grünster Hochschulstandort.
In der Kategorie Energie- und Klimawende ist der Campus sogar weltweit
führend.
Die IoT2-Werkstatt ist eine Graswurzelinitiative im Bildungssystem, um das
Thema für Schüler*innen und Studierende anfassbar zu machen. 21
Informatik-Profilschulen in Rheinland-Pfalz werden bereits vom Team am
Umwelt-Campus betreut.