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„Bei Science-Fiction-Debatten habe ich mich geweigert“

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Acht Jahre war EvH-Rektorin Prof. Dr. Dr. Sigrid Graumann Mitglied im
Deutschen Ethikrat. Jetzt zieht sie Bilanz über Bioethik, den Umgang mit
Behinderung, Zukunftsmusik und das Verhalten in der Pandemie. Ein
Interview.

Als Sie 2016 in den Deutschen Ethikrat eingetreten sind, haben sich
vorgenommen, besonders sozialethische Aspekte in die Arbeit einzubringen.
Ist das geglückt?

Ja, es hat generell geklappt, die sozialethischen Aspekte miteinzubringen.
Dabei ging es mir vor allem um Gerechtigkeitsfragen, um Ausgrenzung und
Diskriminierung von benachteiligten Menschen. Es gibt eine Stellungnahme,
an der ich maßgeblich mitgewirkt habe, in der das besonders heraussticht.
Das ist Stellungnahme „Hilfe durch Zwang“, in der das erste Mal überhaupt
in eine Stellungnahme zu Zwangsmaßnahmen die Kinder- und Jugendhilfe neben
der Psychiatrie und der Pflege aufgenommen wurde. Das hat auch unseren
Arbeitsfeldern an der EvH viel Aufmerksamkeit beschert und war für viele
Verbände, mit den wir als Hochschule kooperieren, ein wichtiges Zeichen
ihre Angebote zu überdenken. An der EvH haben wir dazu eine Fachtagung
veranstaltet und es hat zu einem Forschungsprojekt geführt, in dem
Kolleg_innen der EvH und der Diakonie, eine Ethikberatung für die Kinder-
und Jugendhilfe entwickeln.

Was ist hier Ihre konkrete Empfehlung?

Unser zentrales Statement in der Stellungnahme ist, dass Zwang bei
vollverantwortlichen Personen grundsätzlich nicht zulässig sein kann. Das
betrifft auch Jugendliche. Außerdem müssen Kinder und Jugendliche
grundsätzlich - entsprechend ihrer Persönlichkeitsentwicklung – in ihrer
Autonomie berücksichtigt werden. Das ist schon eine fundamentale Kritik an
repressiven Modellen und Praxen, die es heute nach wie vor auch in der
Kinder- und Jugendhilfe gibt.

Wie sehr mussten Sie kämpfen, damit ihre Positionen im Ethikrat ernst
genommen und berücksichtigt wurden?

Nicht immer einfach war es, die Perspektive von Menschen mit Behinderung
einzubringen, insbesondere, wenn dies im Wiederspruch zur herrschenden
medizinischen Sichtweise erfolgte. Außerdem waren für mich Situationen
besonders herausfordernd, in denen ich als Philosophin und gleichzeitig
als Biologin agiert und versucht habe, diese interdisziplinäre Perspektive
stark zu machen – gerade bei biomedizinischen Innovationen, wie etwa der
Keimbahnveränderung am Menschen. Hier habe ich immer versucht, auch einen
wissenschaftstheoretischen Blick einzubringen und zu hinterfragen: Was
geht überhaupt? Was geht nicht? Denn ich habe mich immer geweigert,
‚Science-Fiction-Debatten‘ zu führen, etwa über unrealistische Szenarien
zu diskutieren wie genetische Manipulationen mit dem Ziel besonders
musikalische, besonders sportliche oder besonders intelligente Menschen zu
schaffen. Die eigentlich ethisch relevanten Fragen von innovativen
Technologien geraten dann nämlich aus dem Blick.

Rühren diese Konflikte auch aus einer unpassenden Zusammensetzung des
Ethikrates? Wie bewerten Sie das?

Die Zusammensetzung des Ethikrats ist ja immer ein bisschen zufällig, weil
die Hälfte der Mitglieder von den Fraktionen im Bundestag anhand ihrer
Stärke im Parlament bestimmt werden. Die anderen 50 Prozent werden von der
Regierung benannt. Und da fehlen aus meiner Sicht oft Absprachen, was
benötigte fachliche Kompetenzen anbelangt. Für meinen Geschmack sind zum
Beispiel immer zu viele Jurist_innen im Ethikrat vertreten und zu wenige
Personen mit interdisziplinären Qualifikationen wie Naturwissenschaften
oder Medizin und Sozialwissenschaften oder Philosophie. Außerdem könnte
der Ethikrat mehr Diversität vertragen.

In Ihre Amtszeit beim Deutschen Ethikrat fiel auch die Corona-Pandemie.
Hätten Sie das vorher gewusst – würden Sie noch einmal antreten?

Gute Frage, denn wir hatten in der Pandemie gleich mehrere Probleme. Es
ging schon los mit einem ungünstigen Personalwechsel gleich zu Beginn des
Lockdowns, wo dann die Mitglieder des neuen Ethikrates die Ad hoc-
Stellungnahme des alten Ethikrates vertreten mussten. Darin ging es unter
anderem um die Triage, also um die Frage, ob Menschen mit Behinderung oder
im hohen Alter den gleichen Anspruch auf ein Intensivbett oder den
Beatmungsplatz haben. Die Aussagen des Ethikrats dazu wurden scharf
kritisiert, auch in einer Stellungnahme von BODYS.

Der Ethikrat hat sich schon recht früh in einer Empfehlung klar gegen die
völlige Isolation von Menschen in Pflegeheimen ausgesprochen. In mehreren
Empfehlungen haben wir uns außerdem mit dem sehr kontroversen Thema Impfen
befasst. Zunächst dazu, welche Personengruppen den höchsten Anspruch
haben, geimpft zu werden – und später, ob es eine Impfpflicht geben soll.
Das Spannende dabei war, dass wir permanent neue wissenschaftliche
Erkenntnisse aufnehmen mussten. Anfangs wussten wir ja noch sehr wenig
über den Erreger, die Krankheit und die Pandemie und deren Folgen. An
vielen Stellen konnte ich hierbei unmittelbar Praxiserfahrungen aus
unserer Hochschule einbringen, z. B. aus der Altenpflege, der
Behindertenhilfe oder der Schulsozialarbeit. In der Stellungnahme
„Vulnerabilität und Resilienz in der Krise“ haben wir dann nach zwei
Jahren Pandemie eine Gesamtbetrachtung der Schutzmaßnahmen aus
wissenschaftlich-ethischer Sicht vorgelegt. Leider ist die Stellungnahme
auf Grund des russischen Angriffs auf die Ukraine nicht so gewürdigt
worden, wie wir uns das gewünscht hätten.

Würden Sie heute in manchen Punkten anders entscheiden?

Wir haben ständig dazu gelernt, deswegen lässt sich das schwer
beantworten. Wenn ich z. B. an die pauschalen Schulschließungen denke. Da
hat der Ethikrat empfohlen, differenzierter vorzugehen, damit Kinder nicht
komplett isoliert werden, und alternativ zu kompletten Schulschließungen
etwa die Arbeit mit kleineren Lerngruppen angeregt und angemahnt, sozial
benachteiligte Kinder besonders zu berücksichtigen. Immer dort, wo wir im
Gremium keinen Konsens erzielen konnten, haben wir die unterschiedlichen
Positionen in unseren Stellungnahmen deutlich gemacht. Das ist für mich
die wahre Stärke des Ethikrates: Andere Positionen werden nicht einfach
überstimmt, sondern in die Empfehlungen eingeflochten und dabei als
alternative Meinungen kenntlich gemacht.

Welche persönlichen Erfahrungen nehmen Sie mit aus dieser Zeit?

Durch die Leitung der Arbeitsgruppe zur Pandemie, habe ich eine
öffentliche Aufmerksamkeit erfahren, die ich bis dato so nicht gewohnt
war. Mich erreichten nicht nur permanente Presseanfragen, sondern auch
immer wieder Anfeindungen und Hassmails. Aus Perspektive der
Wissenschaftlerin muss ich aber auch sagen: Wir sind zu guten Kompromissen
und Ergebnissen gekommen. Ich konnte mich mit vielfältigen Themen
auseinandersetzen, mit denen ich mich sonst nicht so beschäftigt hätte.
Ich habe davon profitiert, auf hohem Niveau mit sehr kompetenten
Fachleuten an konfliktträchtigen Themen zu arbeiten. Und natürlich ist es
auch befriedigend, zu sehen, dass man als Wissenschaftlerin tatsächlich
etwas bewegen kann, wenn man seine Expertise in die Politikberatung
einbringt.

Wenn wir nach vorne schauen – was sind für Sie die wichtigsten
Zukunftsthemen für unsere Gesellschaft? Was geben Sie Ihren
Nachfolger_innen im Ethikrat mit auf den Weg?

Die Herausforderung für den Ethikrat wird künftig darin bestehen, die
notwendigen sozial-ökologischen Transformationen ethisch zu flankieren und
so die politischen Debatten zu versachlichen. Damit spreche ich auf die
Gefährdung der Lebensgrundlagen durch Umweltzerstörung, den Klimawandel
und auch auf die Krise der Demokratie an. Wenn wir über die Verkehrswende,
die Transformation der Wirtschaft oder die notwendige Änderung unseres
Konsumverhaltens sprechen, fühlen sich Menschen überfordert und bekommen
Angst. Wir können den Herausforderungen aber nicht ausweichen – im
Interesse der folgenden Generationen. Darum denke ich, dass die ethischen
Fragen, die mit dieser Transformation zusammenhängen, die Arbeit des
Ethikrates in den kommenden Jahren maßgeblich prägen werden. Um
angemessene Antworten zu finden, braucht es interdisziplinäre ethische
Expertise. Ich wünsche den Verantwortlichen dafür viel Fingerspitzengefühl
und Erfolg.

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Werdegang:
Sigrid Graumann hat Biologie mit Hauptfach Humangenetik und Philosophie an
der Universität Tübingen studiert. Von 1994 bis 1997 war sie Mitglied im
Graduiertenkolleg „Ethik in den Wissenschaften“ der Uni Tübingen und
schloss 2000 ihre erste Dissertation in der Humangenetik über
wissenschaftsethische Fragen der somatischen Gentherapie ab. Von 1997 bis
2002 arbeitete Graumann als wissenschaftliche Mitarbeiterin am
interfakultären Zentrum für Ethik in den Wissenschaften in Tübingen und
von 2002-2008 am Institut „Mensch, Ethik und Wissenschaft“ in Berlin. 2009
vollendete sie ihre zweite Dissertation in der Philosophie über
menschenrechtsethische Fragen der UN-Behindertenrechtskonvention an der
Universität Utrecht. Seit Oktober 2011 ist Sigrid Graumann Professorin für
Ethik im Fachbereich Heilpädagogik und Pflege an der EvH Bochum. Zunächst
als Prorektorin für Forschung und Weiterbildung und seit März 2017 als
Rektorin leitet sie die Hochschule mit Lehr- und Forschungsschwerpunkten
in den Bereichen Soziales, Bildung und Gesundheit.

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