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Wiesbadener Westend: Hinterhöfe bieten Freiräume für vielfältige Stadtgesellschaft

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Studierende begeben sich auf ethnografische Erkundungen in den Hinterhöfen
des Wiesbadener Westends – Lehrforschungsprojekt feiert nach eineinhalb
Jahren Abschluss

In Wiesbaden liegt einer der am dichtesten besiedelten Stadtteile
Deutschlands: das Wiesbadener Westend. Es ist der kleinste Stadtteil der
hessischen Landeshauptstadt, weist aber mit 18.000 Einwohnern auf einer
Fläche von weniger als einem Quadratkilometer eine ausgesprochen hohe
Bevölkerungsdichte auf. Hier leben nicht nur viele Menschen auf engem
Raum, sondern auch viele Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft. „Genau
das macht diesen Stadtteil sehr interessant und für unser großes
zweisemestriges Forschungsprojekt besonders attraktiv“, sagt Dr. Jonathan
Roth, Kulturanthropologe an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
(JGU). Er hat gemeinsam mit der bildenden Künstlerin Aline von der Assen
das Masterprojekt „Urbane Nischen“ geleitet. An dem Projekt waren 19
Studierende beteiligt, die sich in den Hinterhöfen des Wiesbadener
Westends auf ethnografische Erkundungen begeben hatten. Die Ergebnisse der
eineinhalbjährigen Forschung, ihre Beobachtungen und Recherchen, Gespräche
und Dokumentationen werden sie im Rahmen der „Kulturtage Westend“ am 25.
September präsentieren. Interessierte können sich auf der Internetseite
https://hinterhofwestend.de/ einen Eindruck verschaffen.

Das Westend zwischen Problembezirk und Trendviertel

„Willkommen im Westend – Ein internationaler Schmelztiegel der Nationen,
ein Geschäftszentrum mit mehr als 60 Spezialitätenläden und zehn
verschiedenen Nationalitäten bieten Wiesbadenern und Menschen aus vielen
Ländern eine Heimat“, so beschreibt die Stadt Wiesbaden auf ihrer Homepage
das Westend, ein zentral gelegener Stadtteil mit einem Migrationsanteil
von 50 Prozent, der im Zuge der Stadterweiterung um 1840 entstanden ist.
Durch den Kurbetrieb erfuhr Wiesbaden damals ein kräftiges Wachstum, was
Dienstleister wie Handwerker, aber auch Lehrer und Beamte zur Ansiedlung
bewegte und neuen stadtnahen Wohnraum erforderlich machte. Die Architektur
spiegelt das Zuhause der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen noch heute
wider: Altklassizistische Bauten mit herrlichen Fassaden im äußeren,
dichter Altbaubestand im inneren Westend. „Mit der Stadterweiterung waren
im 19. Jahrhundert Sozialprogramme verknüpft, um eine soziale
Durchmischung zu erreichen. Dies wurde vielfach versucht mit der
sogenannten Blockrandbebauung aus Vorderhaus und Hinterhäusern umzusetzen.
In diesen Hinterhäusern befanden sich dann einfache Wohnungen und oft auch
Werkstätten“, so Jonathan Roth. „Für unser Forschungsprojekt war nun die
spannende Frage: Was geschieht hier heute?“

Das Projekt zur ethnografischen Erschließung des Wiesbadener Westends
folgt mit diesem Ansatz einer grundlegenden Studienausrichtung: An der
Mainzer Universität sind die Studiengänge im Fach
Kulturanthropologie/Volkskunde von einer starken Praxisausrichtung mit
eigenständigen Forschungsarbeiten gekennzeichnet. Im Master bedeutet dies
für die Studierenden, dass sie über zwei Semester hinweg an einem
Lehrforschungsprojekt teilnehmen. Die Projekte umfassen von der Konzeption
bis zur Veröffentlichung der Ergebnisse alle Schritte einer eigenständigen
Studie. „Das Masterprojekt ist das Herzstück des Studiengangs, ein sehr
intensives Programm, auf das wir hier in Mainz besonders stolz sind“, so
Roth. Prof. Dr. Michael Simon, der Leiter des Faches
Kulturanthropologie/Volkskunde, ergänzt, dass das forschende Lehren an der
Mainzer Universität auf eine lange Tradition zurückblickt und ganz
wesentlich zu einer hohen Qualifizierung des akademischen Nachwuchses in
seinem Fach beiträgt.

Vor diesem Hintergrund gingen die Studierenden im April 2020 an die
Arbeit: Sie begaben sich auf Stadtteilerkundung im Westend und
insbesondere in den verschachtelten Hinterhöfen des Viertels. Sie sprachen
mit Anwohnern, sammelten Dokumente über die Historie und die aktuelle
Situation, werteten Daten der Archive aus, sammelten Fotos und machten
selbst Bild- und Tonaufnahmen von ihren Erlebnissen. „Wir waren damals
alle froh, dass wir trotz der Coronakrise mit unserer Arbeit und den
Erkundungsspaziergängen starten konnten“, beschreibt Karen Hubrich vom
Team der Studierenden die Situation kurz nach Beginn der Pandemie.
Unterstützung erhielten die studentischen Forschenden von der Stadt
Wiesbaden, lokalen Institutionen, Kulturschaffenden und engagierten
Bewohnerinnen und Bewohnern des Stadtteils.

Hinterhöfe eröffnen Möglichkeiten für unterschiedliche Lebenswelten

Das Ergebnis ihrer Recherchen machen die Studentinnen und Studenten auf
der Internetseite https://hinterhofwestend.de/ öffentlich zugänglich. Es
finden sich hier nicht nur Fotos und Textbeiträge über die vielfältigen
Eindrücke und Erlebnisse, sondern auch Hörspiele und eine zwanzigteilige
Podcastserie mit Stimmen aus dem Westend. Sie zeigen die große Vielfalt
des Stadtviertels und die Hinterhöfe als einen wesentlichen Teil davon.
„Die Hinterhöfe sind zunächst in städtebaulicher Hinsicht ein Freiraum.
Daraus ergeben sich Möglichkeiten, sei es für einen Parkplatz, einen
Spielplatz, Stadtgarten oder Veranstaltungsort“, so Jonathan Roth. „Das
Westend zeigt hier jenseits von ethnischen Kategorien eine enorme
Diversität, die über die sogenannte multikulturelle Gesellschaft
hinausgeht.“

Dabei hat auch das Wiesbadener Westend mit Stereotypen zu kämpfen,
besonders angesichts der Wohnsubstanz, die an vielen Stellen als
sanierungsbedürftig gilt, der Kinderarmutsquote und der Gefahrenhotspots
in dem Viertel. Die „Ortsentdecker“ von der JGU lassen sich jedoch nicht
zu einer Abwertung und ebenso wenig zu einer Romantisierung des Westends
verleiten. Sie zeigen es als ungeschönten Alltagsort, an dem sich ganz
unterschiedliche Lebenswelten entfalten und sich so das Bild einer
vielfältigen Stadtgesellschaft ergibt. „Es ist ein Raum, der verbindet. Er
ist nicht an jeder Stelle schön, aber für den Zusammenhalt ungemein
wichtig“, fasst Roth die Erkenntnisse des studentischen
Lehrforschungsprojekts zusammen. Die Studierenden stellen ihre Ergebnisse
am 25. September 2021 im Rahmen der „Kulturtage Westend“ im „Studio ZR6“
bei einem Abendprogramm mit Kurzpräsentationen vor. Gleichzeitig findet
auch der offizielle Launch der Webseite statt.

Bildmaterial:
https://download.uni-mainz.de/presse/05_ftmk_westend_masterprojekt_01.jpg
Dicht an dicht reihen sich Vorder- und Hinterhäuser im Wiesbadener
Westend. In den Freiräumen dazwischen hat die ganze Vielfalt des
Alltagslebens Platz.
Foto/©: Daniel Fischborn

https://download.uni-mainz.de/presse/05_ftmk_westend_masterprojekt_02.jpg
Vor 100 Jahren dienten Hinterhöfe häufig als Materiallager und Lieferweg
für ansässige Handwerksbetriebe. Heute dienen sie als Parkplätze oder
Spielplätze, Aufenthaltsorte oder Durchgangsorte und manchmal auch als
Ruhezonen.
Foto/©: Jonathan Roth

https://download.uni-mainz.de/presse/05_ftmk_westend_masterprojekt_03.jpg
Das Wiesbadener Westend ist geprägt von einem hohen Altbaubestand. Die
Architekturstile der Gebäude reichen von Klassizismus bis Jugendstil.
Hinter den Fassaden, in den Hinterhöfen, dominiert der einfache Baustil
rotbrauner Klinkerbauten.
Foto/©: Daniel Fischborn

https://download.uni-mainz.de/presse/05_ftmk_westend_masterprojekt_04.jpg
Hans Peter Schickel führt die Studierenden durch das Wiesbadener Westend,
in dem er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hat. Es sind solche
Begegnungen, die es den 19 Studierenden erlauben, trotz Pandemie eine
Stadtteilerkundung zu unternehmen.
Foto/©: Sarah Hale

https://download.uni-mainz.de/presse/05_ftmk_westend_masterprojekt_05.jpg
Stadtethnografie mit dem Handy: Bei ihren Erkundungen im Westend sammelten
die 19 Projektteilnehmerinnen und Projektteilnehmer Hinterhofgeschichten,
die etwas über das Zusammenleben im Viertel in Geschichte und Gegenwart
erzählen.
Foto/©: Sarah Hale

Weiterführende Links:
https://hinterhofwestend.de/ - Projektseite „Urbane Nischen“
https://kultur.ftmk.uni-mainz.de/projekte-in-forschung-und-lehre/ba-und-
ma-projekte/urbanenischen/
- Masterprojekt „Urbane Nischen“
https://kultur.ftmk.uni-mainz.de/ - Kulturanthropologie/Volkskunde am
Institut für Film-, Theater-, Medien- und Kulturwissenschaft der JGU
https://www.ftmk.uni-mainz.de/ - Institut für Film-, Theater-, Medien- und
Kulturwissenschaft
https://www.wiesbaden.de/leben-in-wiesbaden/stadtteile/westend/willkommen-
im-westend.php
- Infos zum Westend der Stadt Wiesbaden