Protestantische Parlamentarier nicht mehrheitlich linksorientiert
Exzellenzcluster erforscht politische Aktivitäten evangelischer
Theologinnen und Theologen vom 19. Jahrhundert bis heute – Neue Datenbank
„TheoParl“ mit reichhaltigem Quellenmaterial – Protestantische Abgeordnete
decken auch nach 1968 das gesamte politische Spektrum ab – In
Umbruchzeiten höchste politische Beteiligung – Durchgehend hoher
Frauenanteil auf Reichs- und Bundesebene – Folge 4 im Podcast „Religion
und Politik“
Münster, 28. April 2021 (exc) Protestantische Parlamentarierinnen und
Parlamentarier decken Wissenschaftlern zufolge in der Langzeitperspektive
das gesamte politische Spektrum ab und sind keineswegs mehrheitlich
linksorientiert. „Das Klischee etwa vom bärtigen Geistlichen bei Anti-
Atomkraft-Demonstrationen bedarf einer Revision. Zwar entwickelt sich die
Parteizugehörigkeit im Verlauf der vergangenen 170 Jahre ein wenig hin zu
einer eher sozialdemokratisch-grünen Ausrichtung, von einer oft
unterstellten Rot-Grün-Werdung im Geiste der 1968er zu sprechen, ginge
aber zu weit“, erläutern der Sozialethiker Prof. Dr. Arnulf von Scheliha
und die Theologin Uta Elisabeth Hohmann, die die parlamentarische
Tätigkeit evangelischer Theologinnen und Theologen vom 19. Jahrhundert bis
heute erforschen. Auf einer Tagung des Exzellenzclusters „Religion und
Politik“ in Kooperation mit dem Centrum für Religion und Moderne (CRM) und
dem Institut für Ethik und angrenzende Sozialwissenschaften (IfES) der Uni
Münster präsentierten sie kürzlich erste Ergebnisse
(http://go.wwu.de/aihhz). Weiterer Befund: Gerade Protestanten zeigten
sich zunächst Monarchie-orientiert, bildeten aber früh Denkmodelle aus, um
ihre Überzeugungen mit der demokratischen Idee zu verbinden. „In
politischen Umbruchzeiten sind protestantische Theologinnen und Theologen
besonders stark im Parlament vertreten, wobei keine eindeutige
fachpolitische Spezialisierung erkennbar ist.“ Auffällig sei ein
überdurchschnittlich hoher Frauenanteil auf Reichs- und Bundesebene, in
den Länderparlamenten dominierten hingegen die männlichen Theologen.
Über ihre bisherigen Erkenntnisse berichten die Wissenschaftler auch in
Folge 4 des Forschungspodcasts „Religion und Politik“
(http://go.wwu.de/qdla4) zum Themenjahr „Zugehörigkeit und Abgrenzung“ des
Exzellenzclusters. Die bisherigen Auswertungen des reichen Datenmaterials
ergeben weiter: „Über die Epochen hinweg war der politische
Protestantismus im ganzen Parteienspektrum vertreten, von mehrheitlich
liberal im Kaiserreich über eher nationalistisch- und christlich-
konservativ seit der Weimarer Republik hin zu sozialdemokratisch-grün seit
der jüngeren Vergangenheit.“ Ausnahmen bestätigen die Regel. So gab es
sozialdemokratische Protestanten im Kaiserreich, aktuell sind
Mandatsträger mit theologischem Hintergrund in einigen Länderparlamenten
auch in der AfD vertreten. Der anfangs so starke Liberalismus ist deutlich
geschrumpft, aber nicht ganz geschwunden. „In der Konstante ist aber das
gesamte Spektrum abgedeckt“, erläutert Hohmann. Hierin spiegelt sich den
beiden Forschenden zufolge die gesamtgesellschaftliche Lerngeschichte der
Demokratie. Auch für den Protestantismus sei es ein langer Weg zur
Akzeptanz von Demokratie und Pluralismus gewesen. „Demokratieskepsis
assoziieren wir heute eher mit der katholischen Kirche als der
evangelischen“, so Hohmann. Dieses Klischee sei über Bord zu werfen.
Die von Hohmann und von Scheliha initiierte Datenbank „TheoParl“
(Theologische Parlamentarier) verzeichnet aktuell rund 560 Einträge und
strebt eine umfassende statistische Bestandsaufnahme von Parlamentariern
auf Landes- und Bundesebene an. Als „TheoParl“ gelten Abgeordnete mit
einem abgeschlossenen Studium der evangelischen Theologie und einem
demokratisch erlangten Mandat. Diese scharfen Auswahlkriterien ermöglichen
den Forschenden zufolge die Analyse über einen langen Zeitraum – Ziel sei
eine möglichst vollständige Listung aller theologischen Mandatsträgerinnen
und -träger seit 1848. Die Ergebnisse der quantitativen und qualitativen
Auswertungen speisen sich aus unterschiedlichen Quellen wie
Parlamentshandbüchern, Parteiakten und Nachlässen.
In Umbruchzeiten höchste Anzahl protestantischer Parlamentarier
Als ein Beispiel für politische Umbruchzeiten, in denen die Anzahl
protestantischer Parlamentarier am höchsten war, nennen die Forschenden
das Ende des 19. Jahrhunderts: Die soziale Frage, die sich damals im Zuge
der Bevölkerungsexplosion und Industrialisierung stellte, motivierte
Pastoren aller Lager zur politischen Teilnahme. Auch die erste frei
gewählte 10. Volkskammer der DDR weist 1990 mit 8 Prozent einen hohen
„TheoParl“-Anteil auf. Die Theologinnen und Theologen hatten bereits in
ihrer kirchlichen Arbeit demokratische Verfahren kennengelernt und waren
zudem durch ihre Ausbildung besonders sprachfähig für die Arbeit im
Parlament. Im Politikfeld Vergangenheitsaufarbeitung waren die
ostdeutschen „TheoParl“ besonders gefragt.
Eine eindeutige fachpolitische Spezialisierung ist den Forschern zufolge
nicht erkennbar, allenfalls eine gewisse Tendenz zu den Bereichen Bildung
und Soziales. „Im Reichstag überwiegt das Interesse an der Sozialpolitik“,
erläutert Uta Elisabeth Hohmann, „letztlich finden sich aber in allen
fachpolitischen Gebieten ‚TheoParl‘, etwa auch im Ressort Internationales
und Sicherheit oder Wirtschaft und Finanzen“. Auch im Deutschen Bundestag
ist die fachpolitische Ausrichtung der protestantischen Parlamentarier
ausgeglichen.
Unter den theologischen Parlamentariern waren auch immer solche von
größerer Bekanntheit, mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag 1983
stößt etwa die Pastorin Antje Vollmer ins Präsidium vor. Weitere bekannte
theologische Mandatsträger waren Susanne Kastner (SPD, Mandat 1989-2013),
Peter Hinze (CDU, Mandat 1990-2017) sowie der spätere Bundespräsident
Joachim Gauck (Bündnis 90/Grüne, Mandat 1990). Die Erhebung fördert auch
Kurioses zutage: Der sächsische Landtagsabgeordnete Frank Richter,
ursprünglich römisch-katholischer Priester, wechselte zweimal die
Konfession und einmal die Partei.
Mehr als die Hälfte der Parlamentarierinnen und Parlamentarier war zuvor
im Pfarramt tätig, das Berufsfeld Schule ist am zweithäufigsten vertreten.
Andere Abgeordnete waren zuvor in Hochschulen oder im Journalismus tätig.
„Mit diesem weiten Theologiebegriff können in unserer Studie schon früh
Frauen als Parlamentarierinnen berücksichtigt werden, denen zwar seit Ende
des Kaiserreiches der Weg zum Theologiestudium offenstand, nicht aber das
kirchliche Amt“, erläutert von Scheliha. Der Frauenanteil beträgt im
aktuellen Bundestag unter den „TheoParl“ 44 Prozent, während ihr Anteil
unter allen Parlamentariern lediglich bei rund 30 Prozent liegt. Dies
lässt sich für die Reichs-/Bundesebene verallgemeinern: Die Anzahl
protestantischer Parlamentarierinnen ist häufig höher als der Gesamtanteil
der Mandatsträgerinnen. (apo/vvm)